Um als Landwirt erfolgreich zu sein, braucht man neben Kopf und Gespür auch vollen Körpereinsatz. Das «Bauern» ist nach wie vor einer der vielfältigsten Berufe. Doch genau diese Vielfalt macht die Landwirtschaft verglichen mit anderen Branchen auch heute noch zu einem gefährlichen Berufsfeld, was das Unfallrisiko angeht. Im letzten Jahr verunfallten von 100 Vollbeschäftigten in Landwirtschaftsbetrieben 13 bei Arbeiten auf dem Betrieb. Das sind doppelt so viele wie im Durchschnitt aller Branchen. Ein Unterschied zeigt sich auch im Verhältnis von Betriebs- zu Nichtbetriebsunfällen: Während sich bei landwirtschaftlichen Angestellten zwei Drittel aller gemeldeten Unfälle während der Arbeit ereignen, sind es bei Angestellten in anderen Branchen nur ein Drittel. Die meisten Gefahren lauern auf Landwirtschaftsbetrieben beim Einsatz von Fahrzeugen und bei Arbeiten im und um das Betriebsgebäude. In diesen Bereichen starben 2019 in der Schweiz gemäss den aktuellen Unfallzahlen 18 von den insgesamt 29 Menschen aufgrund eines Arbeitsunfalls.
«Die Ordnung auf einem Betrieb ist immer auch ein Spiegel der Arbeitssicherheit» Dominique Thiévent
Jeder Unfall ist einer zu viel
Mit der Halbierung der tödlichen Arbeitsunfälle über die letzten gut zwanzig Jahre sind gleichzeitig aber auch Fortschritte in Sachen Arbeitssicherheit in der Landwirtschaft zu verzeichnen. Für Sicherheitsexpertin Dominique Thiévent von der Kontrollstelle für Arbeitssicherheit in der Landwirtschaft (Agriss) ist das ein Zeichen, dass ihre Präventionsarbeit im Landwirtschaftsbereich auch Früchte trägt. Mit dem Bewusstsein, dass jeder Unfall immer einer zu viel ist, kontrolliert sie landwirtschaftliche Betriebe in Bezug auf die geltenden Arbeitssicherheits- und Gesundheitsschutzanforderungen. Von den 500 Betrieben, die jedes Jahr kontrolliert werden, fallen durchschnittlich rund 100 in den Verantwortungsbereich von Dominique Thiévent. Dabei wird sie immer wieder mit ganz unterschiedlichen Situationen konfrontiert: «Bezüglich Arbeitssicherheit besteht in der Landwirtschaft auch heute noch ein grosses Gefälle», weiss Thiévent und führt dies auf die kleinen Strukturen in der Branche zurück. Anders als beispielsweise im Maschinenbau, wo die durchschnittliche Anzahl Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter pro Betrieb viel grösser ist, gleiche die Sensibilisierung in der Landwirtschaft einer Feinarbeit, bei der auch immer wieder sehr viel Fingerspitzengefühl gefragt sei.
Gesetz verpflichtet zur Prävention
Neben der Analyse von Gefahren und dem Festlegen von geeigneten Massnahmen hilft sie den Betrieben gleichzeitig, sich innerhalb der rechtlichen Vorgaben zu bewegen. Denn egal, ob ein Betrieb Lernende ausbildet, Fachkräfte oder nur gelegentlich Aushilfen beschäftigt, untersteht er während der Dauer des Arbeitsverhältnisses dem Unfallversicherungsgesetz (UVG). Demnach sind Betriebe verpflichtet, Massnahmen zur Verhütung von Unfällen und Berufskrankheiten zu ergreifen. Bei Arbeiten mit besonderen Risiken wird die Konsultation von Spezialisten der Arbeitssicherheit vorgeschrieben. Dazu gehören auch der Besuch von Weiterbildungskursen und die Dokumentation über die getroffenen Massnahmen auf dem Betrieb.
Versicherungsschutz aus der obligatorischen Unfallversicherung
Jeder Arbeitgeber ist gestützt auf das Bundesgesetz über die Unfallversicherung (UVG) verpflichtet, seine Angestellten gegen Unfall und Berufskrankheit zu versichern. Als Beschäftigte gelten alle Personen, die auf dem Betrieb gegen einen Lohn Arbeiten verrichten, sei es auch nur stundenweise.Selbständigerwerbende sind nicht obligatorisch gegen Unfall versichert. Sie können der freiwilligen Unfallversicherung beitreten, und mit ihnen auch ihre Familienmitglieder, die im selben Betrieb arbeiten und nicht obligatorisch versichert sind.Nichterwerbstätige Personen wie Hausfrauen und Hausmänner, Kinder, Studierende sowie Rentnerinnen und Rentner müssen sich im Rahmen der obligatorischen Krankenversicherung gegen Unfälle versichern.
Leistungsumfang gemäss UVG
• Deckung weltweit für Berufsunfälle, Berufskrankheiten, Nichtberufsunfälle bei einer Arbeitszeit von mehr als 8 Stunden pro Woche
• Heilbehandlungen (ambulant, stationär) ohne Selbstbeteiligung, im Ausland betraglich begrenzt• Reise-, Transport- und Rettungskosten (im Ausland betraglich begrenzt), Hilfsmittel (gem. Verordnung), Sachschäden (die einen Körperteil oder eine Körperfunktion ersetzen)
• Bestattungskosten (betraglich begrenzt)
• Taggeld (zeitlich unbegrenzt solange ausgewiesen) 80 Prozent des (Brutto-)Lohnes vor Unfall (z.Z. max. 148 200 Franken)
• Invalidenrente 80 Prozent, (resp. 90 Prozent in Kombination mit der IV) des Bruttolohns bei voller Invalidität, lebenslang (u.U. Kürzung bei Erreichen des Pensionsalters Integritätsentschädigung (max. 100 Prozent des höchstversicherbaren Jahresverdienstes von 148 200 Franken)
• Hilflosenentschädigung lebenslang (betraglich begrenzt, abgestuft nach Schwere der Hilflosigkeit)
• Hinterlassenenrente (Witwe und Witwer 40 Prozent, Waisen 15 Prozent des (Brutto-)Lohnes vor Unfall)
• Kürzung der Leistungen bei Grobfahrlässigkeit / Vergehen und Verbrechen / Aussergewöhnliche Gefahren und Wagnissen
Weitere Informationen sind zu finden auf der Website: www.bag.admin.ch ➞ Versicherungen ➞ Unfallversicherung
Abgesichert durch Konzept
Ein griffiges Sicherheitskonzept zu erarbeiten, übersteigt in der Regel die Kapazität eines Landwirtschaftsbetriebs bei weitem. Aus diesem Grund stehen Arbeitgebern branchenspezifisch fertige Konzepte zur Verfügung. Setzt der Betrieb ein Präventionskonzept um, kann er auf den individuellen Beizug von Arbeits-sicherheits-Experten verzichten und erfüllt gleichzeitig die gesetzlichen Vorgaben. Die Beratungsstelle für Unfallverhütung in der Landwirtschaft (BUL) bietet im Auftrag des Schweizer Bauernverbandes die speziell auf die Landwirtschaft zugeschnittene Branchenlösung Agritop an. Das Konzept sieht vor, dass eine Person des Betriebes befähigt wird, die Aufgaben in Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz im eigenen Betrieb weitgehend selbst zu erledigen. Um entsprechendes Wissen aufzufrischen, zu erweitern oder zu vertiefen, ist mindestens alle drei Jahre eine Weiterbildung vorgeschrieben. Diese kann auch im Rahmen eines Audits geschehen. Während des Betriebsbesuches erhalten Sicherheitsbeauftragte Präventionshinweise, die konkret auf ihren Betrieb ausgerichtet sind. Der Beitritt zu Agritop steht auch Betriebsleiterinnen und Betriebsleitern offen, die keine familienfremden Arbeitskräfte beschäftigen und somit rechtlich als Selb ständigerwerbende gelten.
Sicherheit ist Vertrauenssache
Parallel zu ihrer Kontrolltätigkeit ist Thiévent auch als Instruktorin für die BUL tätig, wo sie die Sicherheitsbeauftragten in Grund- und Weiterbildungskursen mit dem nötigen Rüstzeug für ihre Aufgabe auf dem eigenen Betrieb ausstattet. Das Ziel des Ausbildungsprogramms ist es, dass die Teilnehmerinnen und Teilnehmer lernen, Gefahren zu erkennen, Risiken zu beurteilen und geeignete Massnahmen zu treffen. Aus Erfahrung weiss sie, dass es meistens die Betriebsleiter selbst sind, die diese Rolle übernehmen. Für grössere Betriebe könne es aber auch Sinn machen, diese Aufgabe an eine Mitarbeiterin oder einen Mitarbeiter zu delegieren, sagt sie. Der Vorteil darin sei neben der eigenen Arbeitsentlastung auch der, dass Mitarbeiter meist näher am Geschehen dran sind und Sicherheitsmängel so früher erkennen. «Im Falle einer Delegation ist es wichtig, dass ein gegenseitiges Vertrauen herrscht», sagt Thiévent. Denn Massnahmen zur Unfallverhütung sind oft auch mit finanziellen Aufwänden verbunden. Auch sei es ratsam, dass die beauftragte Person auf dem Betrieb eine längerfristige Perspektive habe. Bei einem Wechsel würden die Ausbildungsgebühren in der Höhe von rund 300 Franken sonst erneut anfallen.Der Aufwand für die Prävention ist verglichen mit den Unfallkosten schnell einmal zu vernachlässigen, wie Erhebungen der BUL zeigen. Nebst den Folgen für die Betroffenen kommen neben den direkten Kosten des Betriebes, wie nicht versicherte Lohnleistungen und Lohnnebenkosten, auch die indirekten Kosten hinzu: Es können Umdisponierungen, Terminverschiebungen, Einsätze von Verleihpersonal notwendig werden oder Überstunden anderer Mitarbeiter anfallen. Auch Produktionsausfälle, Regressforderungen oder Probleme mit Aufträgen, Terminen und Kunden können aus Absenzen resultieren. Letztere sind mindestens doppelt so hoch, wie die von der Versicherung bezahlten Heilungskosten und bewegen sich gemäss BUL im Durchschnitt zwischen 6000 und 9000 Franken pro Fall.
Gurtenobligatorium auch in der Landwirtschaft
In den letzten Jahren ereigneten sich zahlreiche schwere Unfälle mit Traktoren und anderen landwirtschaftlichen Fahrzeugen. Bei vielen Umsturzunfällen hätte das Tragen der Sicherheitsgurte die tragischen Unfallfolgen mit hoher Wahrscheinlichkeit verringern können. Aufgrund dieser Unfallhäufigkeit und der bereits bestehenden rechtlichen Grundlagen hat Agriss das Tragen der Sicherheitsgurte auf Landwirtschaftsbetrieben mit familienfremden Angestellten und Lernenden obligatorisch erklärt. Im Vordergrund steht die Ausrüstung der Fahrzeuge mit Sicherheitsgurten und das Erlangen einer Tragroutine.Die gemeinsame Informationskampagne «Schon geschnallt?» der BUL und des Schweizer Bauernverbandes möchte die Akzeptanz und den Einsatz des Sicherheitsgurtes auf landwirtschaftlichen Fahrzeugen fördern, um die Zahl der Todesfälle infolge Fahrzeugstürzen langfristig zu senken. Verschiedene Massnahmen informieren, motivieren und sensibilisieren zur Funktion des Sicherheitsgurtes als Lebensretter.
Wer auf seinem Betrieb trotz Vorschrift kein Sicherheitskonzept anwendet, gerät juristisch schnell einmal aufs Glatteis. Fehlt ein Konzept, wird dies rechtlich bereits als leichte Fahrlässigkeit taxiert. «In der Regel werden Landwirtschaftsbetriebe nicht rückwirkend behaftet», sagt Stefan Stauber, Teamleiter Schaden UVG bei der Agrisano Versicherung. Bei gravierenden Vergehen in Bezug auf die gesetzliche Fürsorge- und Schutzpflicht des Arbeitgebers gegenüber seiner Mitarbeitenden, bleibe die Frage jedoch offen bezüglich der Rückforderung der Versicherungsleistungen. «Im Einzelfall ist es rechtlich möglich, dass auf den Arbeitgeber zurückgegriffen wird», sagt Stauber, und verweist darauf, dass eine Versicherung neben der Leistungserbringung auch verpflichtet sei, die Prämien möglichst tief zu halten. Die Rede ist in diesem Zusammenhang von grobfahrlässigem oder absichtlichem Handeln. Dies sei beispielweise dann gegeben, wenn bei Maschinen Sicherheitseinrichtungen bewusst entfernt oder manipuliert werden, um die Effizienz auf Kosten der Sicherheit zu steigern, sagt Stauber.
Sicherheit als Investition betrachten
Bei grobfahrlässig verursachten Ereignissen handelt es sich gemäss Stauber allerdings um krasse Einzelfälle. Und auch Sicherheitsexpertin Thiévent weiss: «Hinter einer mangelhaften Arbeitssicherheit steht meist keine böse Absicht.» Oftmals lauern auf Landwirtschaftsbetrieben Gefahren an Orten, wo sie niemand erwartet, aber häufig seien die Zustände auch offensichtlich: Eine erste Ahnung, was bei einem Besuch auf sie zukomme, habe sie jeweils schon bei der Anfahrt, sagt Thiévent: «Die Ordnung auf einem Betrieb ist immer auch ein Spiegel der Arbeitssicherheit.» Ihre Aufgabe sieht sie deshalb auch hauptsächlich in ihrer beratenden Funktion. Aus Erfahrung weiss sie: Bereits ein leichter Unfall kann den Betrieb durch den Arbeitsausfall schnell einmal in existentielle Nöte bringen. Denn die Herausforderung in der landwirtschaftlichen Präventionsarbeit liegt neben dem Schutz von Mitarbeitenden auch darin, dass überdurchschnittlich viele Bäuerinnen und Bauern in keinem Arbeitsverhältnis und damit Selbständigerwerbende sind. Sie unterstehen somit nicht dem UVG. Gerade auch vor diesem Hintergrund wünscht sie sich, dass Betriebsleiterinnen und Betriebsleiter die Unfallprävention nicht nur als Belastung, sondern vor allem als Investition in den eigenen Betrieb ansehen.