Quer gelesen
– Die Schilfglasflügelzikade tritt auch in der Ostschweiz auf, dort meist unbeladen, das heisst ohne Krankheitserreger.
– Sogar zwei Krankheitserreger können übertragen werden. In Deutschland kam es 2023 erstmals zur Gummirübenepidemie, verursacht durch das Stolbur-Phytoplasma.
– Es muss geprüft werden, ob SBR- tolerante Sorten auch gegen das Phytoplasma tolerant sind.
Eine nicht einmal 1 cm grosse Zikade ist dafür verantwortlich, dass seit 2017 Westschweizer Zuckerrübenfelder im Spätsommer mit «Syndrom Basses Richesses SBR»-Symptomen vergilben und dass der Zuckergehalt um mehrere Prozentpunkte sinkt. 2023 wurden die Rübenkörper in den süddeutschen SBR-Regionen zusätzlich auch noch «gummig». Was ist passiert? Verursacher dieser «Gummirüben» ist das Bakterium Candidatus Phytoplasma solani, hierzulande bekannt als Verursacher der Stolburkrankheit bei Kartoffeln.
Zwei Erreger tun sich zusammen
Beschrieben wurde die SBR-Krankheit an Zuckerrüben erstmals 2002 in Frankreich. Bereits damals wurden zwei Erreger identifiziert: das Stolbur Phytoplasma (Candidatus phytoplasma solani) und ein Proteobakterium (Arsenophonus phytopathogenicus). Als Haupterreger wurde das Proteobakterium nachgewiesen. Bis 2021 waren die Zuckerrüben in den SBR-Regionen Deutschlands und der Schweiz vor allem mit dem Proteobakterium infiziert. Seit 2023 liegt in Deutschland eine Mischinfektion mit Proteobakterium und einem sehr hohen Anteil an Stolbur Phytoplasma vor, was in Kombination mit der Trockenheit und mit der extrem hohen Zikadenpopulation zur Gummirüben-Epidemie 2023 führte.
Zikaden übertragen die Krankheit
Als Hauptüberträger für die SBR-Krankheit in Zuckerrüben wurde die Schilfglasflügelzikade identifiziert. Adulte Schilfglasflügelzikaden stammen in erster Linie aus Weizenbeständen und fliegen im Frühsommer ab einer Temperatursumme von 750 °C (im Mai resp. Juni) in die Zuckerrübenbestände ein. Die Eier werden von den Weibchen in den Boden gelegt, die Rübenkörper und die Wurzeln des danach gesäten Winterweizens dienen den geschlüpften Nymphen als Nahrung.
Die Übertragung der Proteobakterien auf die Pflanze erfolgt nicht nur durch die adulten Zikaden, sondern auch durch die Nymphen. Letztere nehmen Proteobakterien an infizierten Pflanzenwurzeln auf und übertragen sie weiter, die Beladung mit Proteobakterien nimmt im Laufe der Entwicklung der Nymphen zu. Sie sind somit die eigentlichen Treiber für die Krankheitsausbreitung und aufgrund ihrer monatelangen Lebensweise im Boden ist ihre Bekämpfung sehr schwierig.
Ausbreitung der Zikade
Das SBR-Krankheitsbild mit Proteobakterium und Stolbur Phytoplasma ist sehr komplex. Nach dem Erstauftreten hat die Schweizerische Fachstelle für Zuckerrübenbau (SFZ) zusammen mit Agroscope und mit der finanziellen Unterstützung des BLW ein vierjähriges Forschungsprojekt (2020 – 2024) erarbeitet. Darin wurde von Agroscope die Diagnostik zur Identifizierung und Quantifizierung der Erreger etabliert. Das von Agroscope durchgeführte Monitoring bestätigt die stete Ausbreitung der Zikade Richtung Osten (2023 bis Oensingen) und in den Jura (ab 2022). Im Gegensatz zu Deutschland ist der Haupterreger hier weiterhin das Proteobakterium. Erstmals waren im Herbst 2023 auch vier gelbe Verdachtspflanzen aus den Kantonen Zürich und Thurgau mit dem Proteobakterium infiziert. Darum stellte die SFZ in diesem Sommer an 18 Standorten in den Kantonen Zürich, Thurgau und Aargau Leimtafeln auf. Gesucht, gefunden! Die ersten Ostschweizer Zikaden klebten Ende Juni / Anfang Juli an den Leimtafeln und wurden von einem Analyselabor auf die beiden Erreger analysiert. Bis am 5. Juli wurden 18 Zikaden gefunden, 16 davon waren Schilfglasflügelzikaden, die restlichen 2 Windenglasflügelzikaden. Die meisten Zikaden waren unbeladen (trugen keine Erreger), nur in der Region Lenzburg (SBR Ausbreitungsgebiet West-Ost) wurden erste mit dem Proteobakterium beladene Zikaden gefunden. Im Zürcher Unterland wurde zudem eine einzelne, mit Stolbur Phytoplasma beladene Schilfglasflügelzikade gefunden.
Massnahmen gegen die Zikade
Die Zikade ist da und bleibt. Die Populationsgrösse der Nymphen muss daher in Schach gehalten werden. Dies könnte möglicherweise mit einer Fruchtfolgeumstellung erreicht werden. Brache und eine Sommerkultur (wie Mais) hungert die Nymphen im Winter aus, das zeigt unter anderem eine Studie der BFH-HAFL im Chablais 2022. Das Elsass galt als SBR-frei, bis Winterweizen in die Zuckerrüben-Mais-Fruchtfolge aufgenommen wurde. Allfällige Zwischenfrüchte dürfen der Zikade nicht als Nahrung dienen. Zikaden reagieren im Anflug auf grünbraune Felder, angeflogen werden Lücken.
Zikaden reagieren im Anflug auf grün-braune Felder.
Eine gute Bodenstruktur, eine hohe Bestandesdichte sowie eine schnelle Jugendentwicklung bieten Schutz. Nach der Gummirüben-Epidemie wurden die SBR-Forschungsaktivitäten in Deutschland branchenübergreifend ausgebaut. In verschiedenen Modellregionen werden verschiedenste Bekämpfungsmöglichkeiten wie Bodenbearbeitung, Fruchtfolge, Repellentien, Applikationsinsektizide sowie Beizen (in Winterweizen) intensiv getestet.
Die Züchtung ist gefordert
Die effizienteste Kontrollmöglichkeit in den Starkbefallsregionen bleibt jedoch immer noch die Wahl einer standortangepassten SBR-Sorte. Seit 2020 führt die SFZ eine separate Sortenprüfung auf Befallsstandorten durch. Rhinema, die erste SBR-Sorte, zeigte im Vergleich zum anfälligen Standard (Satie) einen fünf Prozent höheren Zuckergehalt. Der Erfolg der Prüfung zeigt sich mit den neusten Sorten Fitis und Michelangelo, ihr Mehrerlös beträgt 1000 Franken je Hektare unter Befall. Die mehrjährigen Ergebnisse zeigen, dass alle aktuellen Convi-so-Sorten nicht für die SBR-Befallsgebiete angepasst sind. Bei der Wahl einer Con-viso-Sorte verzichtet der Pflanzer zugunsten des Herbizidsystems auf den Mehrerlös. Bislang lag der Prüffokus auf Sorten mit einer Toleranz gegenüber dem Proteobakterium, zukünftig müssen die Sorten auch unter einer allfälligen «Phytoplasma solani»-Infektion ertragsstabil sein.
Der Wirtskreis weitet sich aus
Die Zikade, offensichtlich ein Nutzniesser des Klimawandels, breitet sich weiter aus. Vor zwei Jahren wurde die Schilfglasflügelzikade in Deutschland erstmals auch in Kartoffeln beobachtet. Die warmen Dämme könnten für die Eiablage attraktiv sein, 2022 wurde in Deutschland sogar eine 2. Generation festgestellt. Auch in der Schweiz wurde, nach den letztjährigen schlechten Backtests, ein mehrjähriges Forschungsprojekt in Kartoffeln gestartet. Die Anpassungsfähigkeit der Schilfglasflügelzikade ist sehr hoch, das Wirtspflanzenspektrum und die Ursachen der Ausbreitung noch grösstenteils unbekannt. Als mögliche Ursachen werden auch veränderte Insektizidstrategien diskutiert. Wie bei Zuckerrüben scheint es auch bei Kartoffeln Sortenunterschiede zu geben. Einmal mehr ist die Züchtung gefordert. Allerdings geht es längst nicht mehr um Ertragssteigerung, sondern um die Kombination von Ertrag mit verschiedensten Toleranzen / Resistenzen in einer Sorte, die am besten bereits nächstes Jahr im Feld stehen müsste.