Ein Schulleiter in der Region Yverdon suchte 2004 nach einer Tagesbetreuung von Kindern mit Lernschwierigkeiten in einem ruhigen Umfeld. Dabei stiess er auf den Landwirt Jean-Marc Bovay, für den die Anfrage zum richtigen Zeitpunkt kam: «Ich befand mich selbst gerade in einer Phase der Neuorientierung, und die Sache klang spannend», erklärt er.
Jean-Marc Bovay, Landwirt«Sie lernen, dass man sich jeden Tag um die Tiere kümmern muss und so eine Beziehung aufbaut.»
Seither bietet er Schülerinnen und Schülern auf seinem Betrieb einen Schonraum, in dem sie sich fangen und langsam wieder zurück in den Schulalltag finden können. Besonders der Kontakt mit den Tieren helfe den Kinder enorm. «Sie lernen, dass man sich jeden Tag um die Tiere kümmern muss und so eine Beziehung aufbaut. Dabei erleben sie, dass man mit Gewalt nicht weiterkommt», so Bovay. «Manche Schülerinnen und Schüler kommen nur ein paar Wochen, andere bleiben neun Monate», sagt er. An vier Tagen in der Woche bringt ein Schulbus sie auf den Hof im kleinen waadtländischen Dorf mit weniger als 150 Einwohnern. Begleitet werden sie von einem Pädagogen und einem Lehrer. Keines der Kinder übernachtet auf dem Hof. Zu seinen Aufgaben gehört auch die Elternarbeit.
Betriebsspiegel
- Betriebszweig: Ackerbau (26 ha) Kartoffeln, Hafer, Weizen für Saatgut
- Tierhaltung: Pferdepension, Pferdezucht, Sportpferdezucht
- Strategie: 2002 Umstellung auf Bio; 2004 Beginn der sozialen Dienstleistungen auf dem Hof
- Mitarbeiter: 1 Lehrling, 2 Teilzeitangestellte
Zwischen dem Melken in der Schule
Für Bovay hat alles ehrenamtlich begonnen. Erst seit 2008 wird er für seine Arbeit bezahlt und ist froh darüber. «Zuweilen hatte ich kaum Zeit, mich um den Hof zu kümmern. Das war nicht nachhaltig», sagt Bovay, der damals noch Milchwirtschaft betrieb. Über 50-jährig wagte er dann einen mutigen Schritt und besuchte drei Jahre die höhere Fachschule für Sozialpädagogik in Yverdon. Die kurze Distanz zu seinem Hof ermöglichte es ihm, die Schulbank zwischen dem Melken zu drücken. «Ich bin von Natur aus neugierig, lese und lerne gerne. Die Ausbildung habe ich vor allem für mich selbst gemacht. Und heute profitiere ich davon, mit Fachleuten auf Augenhöhe sprechen zu können», erklärt Bovay mit seiner ruhigen Stimme.
Klienten sind Helfer, aber keine Arbeitskräfte
Eine pädagogische Vorbildung sei nicht zwingend, um auf dem Bauernhof Betreuungsplätze anzubieten, sagt Karin Wyss, Präsidentin des Vereins Carefarming Schweiz. Wyss selbst betreut auf ihrem Hof drei Frauen mit psychischen Beeinträchtigungen.
Karin Wyss, Carefarming Schweiz«Die anfallenden Arbeiten auf dem Hof sollten auch machbar sein, wenn Klienten ausfallen.»
Sie ist ausgebildete Pflegefachfrau und Spielgruppenleiterin und bildet sich stetig im Psychiatrie-Bereich weiter. «Entscheidend ist vor allem die Bereitschaft, sich auf die Person einzulassen und mit ihr zusammen zu arbeiten», sagt Wyss. Geeignet seien Betriebe, die so strukturiert sind, dass sie jemanden aufnehmen können. Als Tagesplatz brauche man nicht unbedingt ein Gästezimmer. Aber Sauberkeit und Sicherheit auf dem Hof und vor allem genügend Zeitreserven sind gemäss Wyss entscheidend. «Die anfallenden Arbeiten auf dem Hof sollten auch machbar sein, wenn Klienten ausfallen», sagt sie und betont, dass dieser Grundsatz schon manche Stresssituation verhindert habe.
Ausbildung zur Betreuung im ländlichen Raum
Soziale Dienstleistungen auf Landwirtschaftsbetrieben schliessen alle Altersstufen ein und umfassen folgende Bereiche:
- Begleitung, Betreuung
- Pflege, therapeutische Angebote
- Freizeit, Ferien
- Entlastungsangebote
Bis anhin ist für die Betreuung von Menschen auf Landwirtschaftsbetrieben eine Ausbildung gesetzlich nicht vorgeschrieben. Fachliche Kompetenzen in diesem Bereich sind dennoch unabdingbar. Die Ausbildung «Betreuung im ländlichen Raum» (ABL) des landwirtschaftlichen Bildungszentrums Inforama (BE) vermittelt grundlegendes Fachwissen in der Sozialpädagogik, in der Entwicklungspsychologie und in der Kommunikation. An insgesamt 40 Kurstagen, verteilt über 16 Monate, werden unter anderem Themen wie Nähe und Distanz, Abgrenzung und Rollenklarheit behandelt. Der nächste Lehrgang startet im August 2022.
Kursleiterin Barbara Thörnblad empfiehlt, unabhängig vom Besuch des Kurses, die Zusammenarbeit mit einer Institution. Weil Gesetzgebungen kantonal unterschiedlich sind und die zuständigen Stellen je nach Klientel variieren, vereinfacht eine Anstellung bei einer Institution die Bürokratie. Die fast zwanzigjährige Erfahrung hat Thörnblad gezeigt, wie wichtig es sei, dass Betriebsleiterfamilien eine externe Ansprechperson haben.
Potenzial in der Erwachsenen-Betreuung
Ein Potenzial sieht der Verein Carefarming im Bereich der Erwachsenenbetreuung. Eine hohe Nachfrage bestehe beispielsweise bei Senioren, die auf einen Hof ziehen und da so lange wie möglich am Arbeitsleben teilhaben möchten.
Ebenso gefragt seien Angebote im Burnout-Bereich, wenn es darum geht, einen Übergang nach einem Klinikaufenthalt zu schaffen. «Auf einem Hof bekommen diese Leute eine Tagesstruktur und können Schritt für Schritt in ihr Alltagsleben zurückfinden», sagt Wyss.
Erfolg als Teil des Lohns ansehen
Auch Jean-Marc Bovay engagiert sich im Verein Carefarming Schweiz und möchte besonders in der Westschweiz den Weg für Neueinsteiger ebnen. «Die Betreuung von Jugendlichen, aber auch von Erwachsenen auf der Suche nach einer Veränderung, ist riesig. Landwirtinnen und Landwirte sind gefragt», ist Bovay überzeugt. Reich werde man mit der Betreuungstätigkeit nicht. Für Bovay steht aber nicht der finanzielle Verdienst im Vordergrund. Er ist mit Herzblut dabei und freut sich jedes Mal, wenn ein ehemaliges Schulkind, das seinen Weg gefunden hat, bei ihm auf dem Hof vorbeischaut. Das gibt ihm die Kraft für weitere Projekte. «Unser Traum wäre es, hier Kinder und Menschen bis ins hohe Alter in einer Generationengemeinschaft zusammenzuführen. Davon könnten alle profitieren.»
Carefarming Schweiz
Der Verein Carefarming Schweiz vernetzt Anbieterinnen und Anbieter sozialer Dienstleistungen im landwirtschaftlichen Bereich und unterstützt diese bei Fragen und Anliegen. Auf seiner Homepage stellt der Verein Betriebe vor, die eine Betreuung anbieten, versteht sich aber nicht als Vermittlungsstelle. www.carefarming.ch