Jedes Jahr im Juni blicken Getreideproduzenten in Richtung Bern. Am Sitz von Swiss Granum, der Schweizerischen Branchenorganisation Getreide, Ölsaaten und Eiweisspflanzen, geht in diesen Tagen das Seilziehen zwischen Verarbeitern, Produzentenvertretern, Sammelstellen und Handel in die letzte Runde. Gespannt wartet man auf den Richtpreis, welcher Tage später fürs Brotgetreide in die Bauernstuben übermittelt wird. Er ist ein Kompromiss innerhalb einer Branche, die sich an politischen, wirtschaftlichen, markttechnischen und agronomischen Fakten orientiert.
Von vielen Grössen bestimmt
Vereinfacht gesagt orientiert sich der Richtpreis unter anderem an der zu erwartenden Erntemenge, geschätzt anhand der Anbaufläche, welche die Produzentinnen und Produzenten im Dezember deklarieren. Ebenfalls massgebend ist die Kostenentwicklung in der Produktion.
Da zum Zeitpunkt der Preispublikation die Ernte noch nicht gesichert ist, handelt es sich um den sogenannten Ernterichtpreis, welcher situativ im Herbst nachverhandelt werden kann. Je nach Marktentwicklung auf internationalem Niveau liegt der spätere, finale Abrechnungspreis der Sammelstellen im nächsten Frühling etwas über oder unter dem vereinbarten Richtpreis. Für Landwirtschaftsbetriebe gibt der Richtpreis eine erste Orientierung.
Markt im künstlichen Gleichgewicht
Für Aussenstehende mag die Sache stark an Planwirtschaft erinnern. Das Mitspracherecht der Verarbeiter und Vermarkter beim Richtpreis hängt damit zusammen, dass der Schweizer Brotgetreideanbau auf dem freien Markt nicht wirtschaftlich wäre und durch Begleitmassnahmen geschützt und im Gleichgewicht gehalten werden muss. Dies geschieht mittels Grenzschutz und Importkontingent.
Das Importkontingent sichert den Absatz des Schweizer Brotgetreides.
Der Grenzschutz orientiert sich dabei am Referenzpreis sowie am maximal möglichen Importzoll und wird bei Brotgetreide dreimonatlich überprüft. Wenn die Import-Getreidepreise mehr als drei Franken über oder unter dem Referenzpreis liegen, wird der Grenzschutz für Importgetreide entsprechend angepasst. Das Importkontingent beim Brotgetreide dient den Verarbeitern als flexibler Puffer und ermöglicht qualitativ gezielte Ergänzungsimporte. Auf der anderen Seite sichert es den Absatz des Schweizer Getreides.
Ernteschwankungen kosten Geld
Damit das funktioniert, ist die ganze Branche darauf angewiesen, dass die Erntemenge inklusive Importkontingent der Nachfrage der Mühlen von rund 480 000 Tonnen pro Jahr entspricht. Ernteschwankungen sind immer mit Kosten verbunden, welche in erster Linie die Produzenten direkt zu spüren bekommen. Bei kleineren Ernten werden in einem ersten Schritt die Reservelager abgebaut. Reicht diese Menge nicht, beantragen die Verarbeiter beim Bund eine Erhöhung des Importkontingents. Der Vermarktungserlös wird abzüglich der Kosten an die Sammelstellen als Schlussabrechnungspreis jeweils im Frühjahr ausbezahlt.
Im Fall von Ernteüberschüssen gilt es, Ware vom Binnenmarkt zu nehmen.
Im Fall von Ernteüberschüssen gilt es, Ware vom Binnenmarkt zu nehmen. In einem ersten Schritt werden die Reservelager gefüllt. Die dafür nötigen Lager- und Kapitalkosten überwälzen die Sammelstellen auf die gesamte Wertschöpfungskette.
Sind die Kapazitätsgrenzen erreicht, stehen der Branche zwei weitere Massnahmen zur Verfügung. Zum einen gibt es die Exportunterstützung bei verarbeiteten Produkten auf Getreidebasis. Jedes Jahr werden so umgerechnet bis zu 50 000 t im Inland produziertes Brotgetreide in verarbeiteter Form exportiert. Zum anderen können weitere Überschussmengen deklassiert und über den Futtersektor abgesetzt werden. Dies führt dazu, dass die Vermarkter ihre Ware vor der nächsten Ernte absetzen können, ohne den Verkaufspreis für Brotgetreide senken zu müssen.
Fonds als «Versicherung»
Finanziert werden beide Massnahmen über den Marktentlastungsfonds des Schweizerischen Getreideproduzentenverbands (SGPV). Bei der Deklassierung wird damit ein beachtlicher Teil der Preisdifferenz zwischen dem Verkauf als Futterweizen und dem Übernahmepreis für Brotweizen an die Produzenten kompensiert. Im Export wiederum werden die Mehlpreise für die inländischen Verarbeiter auf ein konkurrenzfähiges Niveau justiert, welches nahe dem europäischen Preis liegt.
Gespeist wird dieser Fonds von der gesamten Branche, hauptsächlich jedoch über Produzentenbeiträge. Da der Bund seit 2018 gegenüber der WTO verpflichtet ist, auf Exportsubventionen im Landwirtschaftsbereich zu verzichten, musste die Exportunterstützung privatisiert werden. Dadurch erhöhte sich der Produzentenbeitrag 2019 um über 70 Prozent. Im Gegenzug erhalten die Landwirtschaftsbetriebe seither einen zusätzlichen Flächenbeitrag (Getreidezulage), der deren Mehraufwand weitgehend kompensiert.
«Ohne Richtpreis würde weniger angebaut»
Wer in der Branche profitiert vom heutigen System am meisten?
Vom Richtpreis profitieren alle. Ohne ihn gäbe es kontinuierliche Verhandlungen innerhalb der Wertschöpfungskette, und die Preise würden unter Druck kommen. Zusätzlich zu möglichen Ernteausfällen und Qualitätsabzügen wüssten die Produzenten bis weit in die laufende Saison hinein nicht, ob die letzte Saison überhaupt kostendeckend war. Es würde dann sicherlich weniger angebaut.
Welches Gewicht haben die Produktionskosten in den Richtpreisverhandlungen?
Ein grosses. In der Saison 2022 flossen die höheren Düngerpreise bereits in den Richtpreis ein. Aktuell ist der Stickstoffpreis wieder fast auf dem Niveau von 2021. In der Saison 2023 haben nun jene Produzenten Pech, die den Dünger im letzten Dezember bestellten. Die Mindereinnahmen aufgrund des Absenkpfades werden nur teilweise über die Direktzahlungen kompensiert, somit ist es wichtig, dass die Richtpreise diese Komponente auch berücksichtigen.
Ist der Brotgetreideanbau mit einer quartalsweisen Überprüfung des Grenzschutzes genügend geschützt?
Bei einem raschen internationalen Preiszerfall wird der Grenzschutz nicht schnell genug angepasst. Die Produzenten spüren normalerweise diesen Effekt kaum. Für die Händler und die Müller besteht jedoch die Gefahr, dass sie Marktanteile verlieren, weil die Verarbeiter der zweiten Stufe dann günstig und unlimitiert Mehl und Fertigprodukte importieren können. Die Branchenorganisation Swiss Granum kämpft deshalb für eine monatliche Überprüfung des Grenzschutzes. Ein weiteres Problem ist der maximale Grenzschutz von 23 Franken. Dieser reicht bei tiefen europäischen Preisen nicht aus, um die inländische Produktion genügend zu schützen.
Warum erfahren Konsumentinnen und Konsumenten trotz kostspieligen Begleitmassnahmen kaum, ob ihr gekauftes Weggli aus Schweizer Weizen hergestellt wurde?
Bei Backwaren ist es zurzeit noch schwierig, die Herkunft der Rohstoffe zu erfahren. Bei IP-Suisse-Produkten liegt der Anteil inländisches Getreide in der Regel bei 100 Prozent. Bei der Knospe ist es mangels Verfügbarkeit weniger transparent. Das Label Suisse Garantie (Swiss Premium) wird kaum benutzt. Die Marke Schweizer Brot benutzen 300 gewerbliche Bäckereien. Sie erlaubt eine Auslobung mit dem Schweizerkreuz, wenn ein Produkt aus 80 Prozent Schweizer Getreide hergestellt wurde. Die Grossverteiler machen da aber noch nicht mit. Doch die Aussichten sind gut. Ab 2024 wird bei Backwaren eine Deklarationspflicht für das Verarbeitungsland eingeführt. Sie gibt zwar noch keine Auskunft über die Herkunft der Rohstoffe, aber immerhin einen ersten Anhaltspunkt für die Kundschaft.