Wenn die Kapelle das Lied «Dort – wo das Edelweiss…» anstimmt, gibt es kein Halten mehr: Das dichtgedrängte Publikum an den Tischen im Festzelt auf dem Urnerboden stimmt aus voller Kehle ein und schunkelt mit. Die Stimmung erreicht schon am Nachmittag einen ersten Siedepunkt, noch bevor die Musikwelle mit dem Älpler-Wunschkonzert auf Sendung geht. «Es ist schon eine extreme Situation für einen Moderator», gibt Beat Tschümperlin zu, der mit Christine Gertschen jeden Sommer durch die Radio-Livesendung führte. «Man muss sehr laut sprechen und darf nicht erwarten, dass einem das ganze Festzelt zuhört.»
Vor 1991 wurde das Älpler-Wunschkonzert vom Studio aus gesendet – einmal jährlich im Rahmen des legendären Montags-Wunschkonzerts auf Radio DRS 1. Dann kam der damalige Moderator Thomas Bär auf die Idee, aus der Sendung einen Liveanlass zu machen, als Szenario dafür schlug er die grösste Alp der Schweiz vor, den Urnerboden.
Musikgrüsse von Alp zu Alp
Das Wunschkonzert am Montagabend war vor 50 Jahren ein Strassenfeger. Die Schweiz sass vor dem Empfänger von «Beromünschter» in der Stube – Radio war damals das angesagte Medium. Willy Buser präsentierte das, was die Schweiz gerne hören mochte: Ländler, Schlager, leichte Klassik, unterbrochen einzig vom «Briefkastenonkel» der seinen «lieben Nichten und Neffen» alle erdenklichen Fragen des Lebens beantwortete. Er war das dazumal einzige Auskunftsportal der Nation – Internet lag noch in den Sternen.
Bauern und Sennerinnen, die den Sommer allein mit ihren Tieren auf der Alp verbrachten, bildeten schon immer einen gewichtigen Höreranteil. Sie wurden von ihren Angehörigen und Freunden aus dem Tal musikalisch gegrüsst – oder sandten selbst volkstümliche Klänge hinunter in die Ebenen oder auf befreundete Alpen.
So schien dem damaligen Radiomoderator Thomas Bär naheliegend, für einmal aus einer Studiosendung ein Radio-Fest zu machen, zur Kundschaft zu gehen und Grussbotschaften und Musikwünsche live über den Äther auszustrahlen. In den Anfangsjahren seien Gäste fortgeschrittenen Alters und Älpler mit Alpenrosen am Hut und Brissago im Mundwinkel andächtig auf den Bänken gesessen und hätten der Musik gelauscht, erinnert sich Bär. Von behäbiger Andächtigkeit kann inzwischen keine Rede mehr sein. Seit ein paar Jahren geht am Anlass auf dem Urnerboden regelmässig die Post ab. Ein junges Publikum hat das Älpler-Fest für sich entdeckt. «Wir erreichen den Lärmpegel eines Rockkonzerts», erwähnt Christine Gertschen, die als Co-Moderatorin der SRF-Musikwellen-Sendung amtet.
Was nicht bedeutet, dass die älteren Hirten nun nicht mehr kämen. Die Charakterköpfe im Sonntagsstaat, Edelweisshemd oder bestickter Trachtenbluse, sitzen nach wie vor im Zelt, klopfen ihren Jass bei einem «Urnerbode Kafi». Im Kreis seiner Kollegen sitzt dort auch Älpler Sepp Arnold (44). Über die Jasskarten in der Hand hinweg hat er gleichzeitig ein waches Auge auf die holde Weiblichkeit in der Gästeschar. Denn: «Das Älpler-Wunschkonzert ist auch die grösste Brautschau der Schweiz», gibt Christine Gertschen verschmitzt zu Bedenken.
Was für die Besucher vor Ort im Bergtal besonders attraktiv ist: Sie können ihre Musikwünsche bis unmittelbar vor Sendebeginn um sechs Uhr abends noch mündlich anbringen. Erfüllt werden sie dann nicht wie beim normalen Montagswunschkonzert ab Tonträger, sondern live. Dazu lädt das Radio jedes Jahr drei der urchigsten Schweizer Volksmusikformationen auf den Urnerboden ein – je eine für die Sparten Jodel, Ländler und Instrumental.
Jodelklubs haben bei dem Geräuschpegel natürlich einen eher schweren Stand. Oftmals geben sie dann noch eine Zusatz-Kostprobe in der stillen Bergkapelle. Für viele Jodler Fans ist dies das eigentliche Highlight. Die meisten aber feiern und tanzen bis in die Morgenstunden. Ein Zeltlager bietet Gewähr, dass vor der Heimfahrt ausgeschlafen werden kann.
Im August 2017 fand das Älpler-Wunschkonzert bereits zum 26. Mal statt. An den Autokennzeichen auf dem Parkplatz war ersichtlich, dass die Veranstaltung Zentral-, Ost- und Westschweizer genauso anzieht wie Walliser oder Gäste aus dem nahen Ausland. Inzwischen sind es jeweils weit über 2000 Besucherinnen und Besucher. Und um die 300 000 Hörerinnen und Hörer lauschen dem Wunschkonzert zuhause am Radio.
OK-Präsident Markus Walker hat für den Erfolg eine Erklärung: «Das Älp-ler-Wunschkonzert kommt deshalb so gut an, weil es noch etwas Natürliches ist.» Es sei nicht einfach eine Show, sondern passe gut auf in die Bergwelt des Urnerbodens.
Bergheimat Urnerboden
Normalerweise verläuft das Leben im Alp-Weiler, auf 1400 Metern zwischen den Kantonen Uri und Glarus gelegen, in ruhigen Bahnen. Seit drei Jahren ist auf dem Urnerboden die grösste Alpkäserei der Schweiz in Betrieb. Die rund 1000 Kühe geben während dem Alpsommer rund 1.4 Millionen Liter Milch. 500 000 Liter werden von den Älplern selber verkäst, 900 000 Liter werden in der neuen Käserei verarbeitet.
Wenn im September die Älpler mit ihren Kühen heimwärts ziehen, gehört der Weiler wieder ganz den Dauerbewohnern. Wie es der Name «Urnerboden» besagt, ist er Besitz des Kantons Uri, obwohl er ennet der Wasserscheide am Klausenpass und im Einzugsgebiet der Glarner Linth liegt. Vor Jahrhunderten war er das Armeleute-Ghetto des Bergkantons. Wer nichts mehr hatte, ging mit ein paar Geissen auf den Urnerboden. Denn die Bestossung der Bergweiden mit Schmalvieh war allen erlaubt. 1935 lebten noch 250 Personen ganzjährig da oben, heute ist die Zahl der Verbleibenden auf gut zwei Dutzend gesunken.
«Im Winter sind wir Glarner», sagt Markus Walker, der auch Besitzer des Gasthauses vor Ort ist. Wegen der Wintersperre des Klausenpasses, kann die Alp im Winter nur via das Linth-Tal erreicht werden. Walker räumt mit einem ansehnlichen Maschinenpark im Auftrag des Kantons Uri jedes Frühjahr die Strasse vom Schnee – und er ist auch Präsident des lokalen Verkehrsvereins. Damit die rund 2500 Besucher jeweils ihr Wunschkonzert-Fest geniessen können, kann er auf den Einsatz von rund 150 Helfern zurückgreifen. Ohne die, mit den nur 25 fest hier dauernd sesshaften Anwohnern, ginge es natürlich nicht. Dank dem Skiklub mit 330 Mitgliedern und dem Verkehrsverein mit 180 Personen sowie den vielen ehemaligen Heimweh-Alpbewohnern kann er genügend Personal rekrutieren. «Hier trifft man sich wieder einmal – und für ihren Einsatz werden die Helfer später mit einem Ausflug belohnt. Das Wunschkonzert stärkt den Zusammenhalt unter den Urnerbödelern», sagt der OK-Präsident.
Das nächste Älpler-Wunschkonzert findet am 6. August 2018 auf dem Urnerboden statt. Sepp Arnold will dann wieder dabei sein. Ob er da unter den Besucherinnen eine Lebenspartnerin sichten könnte? – «So Gott will», brummt er, «man kann nicht immer alles haben, wie man es gerne möchte. Das Leben ist kein Wunschkonzert.»