Der Volkskünstler Louis Saugy, der das Landleben im waadtländischen Pays-d’Enhaut und im angrenzenden Freiburgischen sowie im Obersimmental in kunstvollen Scherenschnitten festhielt, lebte von 1871 bis 1953. Aber seine Werke kommen uns auch heute noch quicklebendig entgegen zum Beispiel in Büchern oder im Musée Pays-d’Enhaut in Château-d’Œx.
Inspiration beim Postaustragen
Der spätere Scherenschnittkünstler wurde in Gérignoz, einem Dorf am Bergbach Gérine in der Nähe von Château-d’Œx, geboren. Sein Vater Jules war Bauer und seine Mutter Lehrerin. Als Kind konnte Louis zuschauen, wie seine Mutter mit geschickter Hand Zeichnungen tuschte und wie sein Vater Scherenschnitte fertigte. Diese frühen Eindrücke sollten sein späteres Leben als Künstler prägen. Er machte jedoch zunächst eine Ausbildung zum Schreiner bei seinem Onkel Alois und mit 32 Jahren nahm er eine Stelle als Briefträger in Rougemont an.
Louis galt als gutmütig, als einer der gern Witze machte, und er war ein überall beliebter Pöstler. Auf seinen Zustelltouren bewunderte er jeweils in den Stuben der Bauernhäuser und Chalets ausgiebig die alten, prächtigen «Hauswirth»-Scherenschnitte, welche da die Wände schmückten. Diese nahmen ihn gefangen, inspirierten ihn schliesslich dazu, sich selbst an die Herstellung von Scherenschnitten zu wagen. Das kunstfertige Schnipseln wurde zu seiner Passion. Er zeigte in seinen Bildern prächtige Chalets und dekorative Bäume, Alpfahrten, Volksfeste, Leute, die ihrem Handwerk nachgehen – so, wie er es in den Schnitten seines Vorbildes Hauswirth gesehen hatte.
Ein kreativer Schüler mit grossem Vorbild
Louis Saugy orientierte sich also am filigranen Vermächtnis von Johann Jakob Hauswirth, dem «Vater des Schweizer Scherenschnitts». Er war ein Landsmann von ihm gewesen. Im Juli 1809 in Saanen geboren, ein Hüne von Gestalt, wurde er zu seinen Lebzeiten in seiner künstlerischen Bedeutung von kaum jemandem erkannt. Hauswirth verstarb, vereinsamt und verkannt, am 29. März 1871 keine zwanzig Kilometer von seinem Geburtsort entfernt im Tobel von L’Evitaz in seiner selbst gezimmerten Hütte.
Zeitgenossen erinnerten sich an Hauswirth: Seine Hände seien wie Schaufelpranken gewesen, geprägt von Jahrzehnten rauer Arbeit als Köhler und Taglöhner, mit klobigen Fingern wie Tannzapfen. Er hatte an seinem Scherchen zusätzlich Drahtringe angebracht, um das Schneidinstrument überhaupt führen zu können. Zu Lebzeiten wurde der gutmütige Riese oft verlacht. Seine Kunstwerke gab er allzu oft für ein Butterbrot weg. Wenn er mit seiner Rückentrage und in seinem Passgang durch die Dörfer des Pays d’Enhaut trottete, rannten ihm die Kinder hinterher und spotteten «Trébocons, Trébocons!»
Aber: Seine Fähigkeiten mit der Schere waren verblüffend. Oft wurde versucht, seine feinen und hochkomplexen Scherenschnitte nachzuahmen – ohne Erfolg. Er war künstlerisch ideenreich und innovativ und er blieb mit seinen Scherenschnitten nicht bei den klassischen schwarz-weissen Blättern. Er verliess hin und wieder sogar die Symmetrie, die in diesem Metier bis dahin strikte gegolten hatte. Für die farbigen Applikationen in seinen grossen und bunten Scherenschnitten, mit Szenen aus dem Landleben, suchte er überall in den Dörfern nach weggeworfenem, farbigem Altpapier. Daraus schuf er mehrschichtig übereinander geklebte Schnitt-Collagen. Eine heiter ausgelassene, bodenständige, sorglose und zugleich idyllisch zarte Welt präsentierte er in diesen Kompositionen. Heute ist ein echter «Hauswirth» Abertausende von Franken wert.
Er hatte erst mit 40 Jahren das Selbstvertrauen, seine Werke zu verkaufen.
Zwei unterschiedliche Standbeine
Louis David Saugy hatte erst mit 40 Jahren das Selbstvertrauen, seine Werke zu verkaufen. Dies aber gleich mit Erfolg, und sein Ruhm ging bald über des Pays-d’Enhaut hinaus. Er wurde zu Ausstellungen eingeladen und prominente Kunstinteressierte besuchten ihn in seinem Haus. Den Job als Postbote gab er im Alter von 57 Jahren aus gesundheitlichen Gründen auf. Er widmete sich in der Folge zwei recht unterschiedlichen Beschäftigungen: der Herstellung und Vermarktung von Enzianlikör und seinen Scherenschnitten.
Louis Saugy arbeitete, so ist es überliefert, gerne ausgestreckt auf seinem Sofa. Vor ihm lag auf dem Salontisch eine dünne grüne Platte. Mit einer scharfen Schere schnitt er die Silhouetten, ordnete die Teile an und balancierte das Ganze mit einem Messschieber aus. Er bearbeitete seinen Bildaufbau mit einer Pinzette und fixierte das Ganze mit einer Hutnadel und einem Tropfen Klebstoff auf die Unterlage. Während konventionelle Scherenschnitt-Künstler darauf Wert legten, monochrome Bilder aus einem einzigen, in zwei Hälften gefalteten Blatt schwarzen Papiers zu schneiden, ohne dass Leim erforderlich wäre, scheute sich Saugy nicht, mehrere zuvor geschnittene Abschnitte zusammenzusetzen, um komplexere Werke zu schaffen. Er personalisierte seine Werke auch gerne für die Menschen, für die er sie schuf. Seine humoristische Seite kam da nicht selten zum Zug, etwa in der Gestalt eines Wildhüters, der einen Wilderer verprügelt. Auch ein Auto hielt bereits 1925 Einzug in seine idyllische Alpenwelt.
Fälschungen sind im Umlauf
Heutzutage ist es leicht geworden, mit modernen technischen Hilfsmitteln Scherenschnitte zu produzieren. Dabei kommen CAD – computergezeichnetes Dessin – und Laserschneider zum Einsatz. Plotterdateien mit «Alpaufzug» können direkt im Internet bezogen werden. Gross ist daher die Versuchung, ein so entstandenes Produkt als «alten» und darum teuren handgearbeiteten Scherenschnitt anzubieten. Aber Experten können Fälschungen recht gut erkennen. Zum Beispiel: Der Leim, den Louis Saugy verwendete, zersetzte sich mit der Zeit und hinterliess leicht bräunliche Flecken auf den Schnitten. Diese sind nun zu einem Markenzeichen seiner Scherenschnitte geworden.
Das Silhouetten-Schneiden ist eine beinahe vergessene Kunst
Schon vor zweitausend Jahren wurden im alten China Scherenschnitte gefertigt. In Europa schufen Nonnen in spätmittelalterlichen Klöstern in dieser Manier erste Andachtsbildchen. Jahrhunderte später kamen im städtischen Bürgertum die Portrait-Silhouetten in Mode: Profile von Gesichtern wurden aus schwarzem Papier geschnitten und aufgeklebt. Der Name geht zurück auf den eher unbeliebten französischen Finanzminister Étienne de Silhouette (1709 – 1767). Dieser empfahl in Sparmanier, doch statt der teuren Miniaturmalerei nun Scherenschnittprofile als Erinnerungsbildchen machen zu lassen. Tatsächlich sind von vielen Persönlichkeiten von einst heute einzig mehr diese «Umrissporträts» erhalten.
In der Folge gewann die Technik des Scherenschnitts auch auf dem bäuerlichen Land immer mehr an Beliebtheit und wurde zur eigentlichen Volkskunst.