Sein erster grosser Wurf gelang dem Medizinpionier Dr. med. Maximilian Bircher-Benner (1867 – 1939) als er 1904 am Zürichberg, nicht weit vom Hotel Dolder, sein Sanatorium «Lebendige Kraft» eröffnete. In diesem patriarchalisch geführten Familienunternehmen, der späteren Bircher-Benner-Klinik, sollte das Birchermüesli eine zentrale Rolle spielen.
Bircher-Benner konnte in der Klinik sein fortschrittliches Programm im Kampf gegen die «zunehmende Konstitutionsverschlechterung der Kulturmenschheit» (O-Ton eines Klinikprospekts) an seinen Patienten anwenden. Selbst internationale Prominenz unterzog sich hier der strengen Kur. Thomas Mann bezeichnete das Sanatorium in einem Brief als «hygienisches Zuchthaus», in dem er sich wie ein «Gras essender Nebukadnezar» fühle.
Arzt und Fitnesstrainer
Bircher-Benner stellte die ganzen Ernährungsgewohnheiten des späten 19. Jahrhunderts auf den Kopf. Er empfahl Früchte, Gemüse und Nüsse statt viel Fleisch und Weissbrot. Zu seinen ganzheitlichen Gesundheitsvorstellungen gehörte aber nicht bloss kontrolliertes Essen, sondern auch eiserne körperliche Disziplin. Bircher-Benner war somit auch ein Vorreiter von Turnen, Spiel und Sport im Sinne der Körperfitness und Volksertüchtigung. So mussten sich die Sanatoriums-Kurgäste, egal welch vornehmer Herkunft sie waren, einem fast klösterlich-asketischen Tagesrhythmus unterziehen: Frühes Aufstehen, zeitiges Zubettgehen (mit Lichterlöschen bereits um neun Uhr abends), dazwischen körperliche Ertüchtigung durch Bewegungs- und Hydrotherapie, Luftkuren sowie aktive Betätigung bei Gartenarbeit und Turnen im Freien.
Bircher-Benner und Kellogg
Zwei Richtungen prägten damals die Ernährungsrevolution: in der Schweiz die des radikalen Doktors vom Zürichberg, Bircher-Benner, und zeitgleich in den USA die des Arztes und Cornflakes-Erfinders John Harvey Kellogg (1852 – 1943). Der Amerikaner aus Michigan stand für Industriefood und vegetarische Kost, der Schweizer für vollwertig-naturnahe Rohkost. Sie waren beide Patriarchen, die jedoch der Feminisierung des Essens den Weg bereiteten. Zudem scheint es üblich zu sein, dass Naturärzte durch persönliche Lebensumstände und eigene Krankheit auf das Thema ihres Lebens stossen und zu missionarischem Eifer beflügelt werden. Beide hatten ein schwieriges Jugendumfeld; Kellogg erkrankte an Tuberkulose und Bircher-Benner litt an Schlafstörungen und Herzbeschwerden.
Bircher-Benner stellte die ganzen Ernährungsgewohnheiten des späten 19. Jahrhunderts auf den Kopf.
Alphirten als Ideengeber
Bircher-Benner gehört zu jenen Reformern, die am tiefgründigsten über das Wechselspiel zwischen Essen, Körper und Gesellschaft nachgedacht haben. Dabei kam er zu Erkenntnissen, die heute ernährungswissenschaftlich anerkannt sind. Er begegnete der bürgerlichen Braten-, Speck- und Schweinebauchgesellschaft als Mahner, indem er Rohkost und pflanzliche Ernährung befürwortete. Er setzte Qualität vor Quantität und Leichtes über Schweres. «Sonnenlichtnahrung» war seine wissenschaftlich nicht fassbare Theorie und damit verbunden die Rückkehr zu einem Leben in Harmonie mit der Natur. Er bezog sich dabei auf Lebensweisheiten, die er bei seinen bergbäuerlichen Ahnen vermutete. Er legte Wert darauf, dass das Kernstück seiner Ernährungsphilosophie, das Birchermüesli oder «d’Spys», wie er schlicht sagte, mit der Nahrung helvetischer Bergbauern und Alphirten verwandt sei. Diese führten in seinen Augen ein besonders gesundes und naturnahes Leben. Deshalb reiht sich das Bircher’sche Müesli im Grunde genommen in die lange Tradition der Getreidemus-Speisen und Frühstücks-Getreidebreie ein. Diese bestimmten bis zur Industrialisierung den bäuerlichen Speisezettel. Bei Bircher-Benner stand allerdings nicht das Getreide, sondern der Apfel (samt Kerngehäuse) im Zentrum seiner Gesundheitsspeise. Was heute alles unter dem Begriff «Birchermüesli» angeboten wird, hat mit dem Originalrezept (siehe Kasten)nicht mehr viel zu tun.
Globaler Siegeszug
Die Gretchenfrage ist wohl die, warum eine solche Traditionsspeise zum Welthit und Dauerbrenner wurde. Im Bircher-Benner-Archiv am Medizinhistorischen Institut und Museum der Universität Zürich fand man eine plausible Antwort: Das heutige, variationsreiche Müesli ist multifunktional. Es eignet sich für Gesundheits- und Ökobewusste, für Sportler und Rentner, für Alt und Jung, kurz für alle, und zudem ist es von globaler Geschmacksakzeptanz. Es will ja schon etwas heissen, wenn ein Helvetismus wie der Begriff Birchermüesli – oder schlicht Müesli – zu den Wörtern gehört, die international verstanden werden. Das hatten vorher nur wenige Wortgebilde geschafft, so etwa die Bezeichnung für die «Schweizer Krankheit», das Heimweh, das übers Französische (le hemvé) und Englische (homesickness) in den internationalen Sprachschatz vordrang.
Er setzte Qualität vor Quantität und Leichtes über Schweres.
Auch den Tieren zugetan
Der berühmte Arzt und Menschenfreund hatte auch ein Herz für Tiere. Oft traf man ihn auf dem Pferderücken beim Morgenritt an. Dass auch Tiere gelegentlich musartige Nahrung erhalten, zum Beispiel das angefeuchtete «Mash» für trächtige Stuten vor der Geburt, hat zwar nichts mit Bircher-Benner zu tun, belegt aber die vielseitige Verwendung von Musnahrung. Besondere Zuneigung brachte er seinen Pekinesen entgegen, die ihn stets begleiteten. Und fast rührend ist in diesem Zusammenhang die Geschichte vom Ende des grossen Lehrmeisters: Die mit der Pflege des im Sterben liegenden Bircher-Benner betraute Krankenschwester hörte am Abend des 24. Januar 1939 im Studierzimmer im Untergeschoss die Hunde plötzlich jaulen und bellen, und es gelang ihr nicht, sie zu besänftigen. Als sie wieder ins obere Stockwerk zum Sterbezimmer eilte, teilte man ihr mit, dass der Doktor eben entschlafen sei.
D’Spys – das Originalrezept
Bircher-Benner hat seine Rohkostspeise, «d’Spys», nicht, wie in bürgerlichen Kochbüchern üblich, für eine vierköpfige Familie, sondern für eine Einzelperson berechnet. Für sein Birchermüesli waren Zutaten und Zubereitung von gleich grosser Bedeutung:
Zutaten
2 – 3 kleinere oder ein grosser Apfel (samt Schale und Kerngehäuse)
1 Esslöffel geriebene Baum- und Haselnüsse sowie Mandeln
1 gestrichener Esslöffel Haferflocken, 12 Stunden vorgeweicht in 3 Löffel Wasser
Saft einer halben Zitrone und 1 Esslöffel gezuckerte Kondensmilch
Zubereitung
Zuerst werden Kondensmilch und Zitronensaft unter die Haferflocken gemischt, dann der Apfel auf der Reibe gerieben und laufend unter den Brei gemischt, damit die weisse Farbe des Fruchtfleisches erhalten bleibt. Wichtig ist, dass die Zubereitung unmittelbar vor dem Essen erfolgt. Die geriebenen Nüsse (als Eiweiss- und Fettergänzung) werden bei Tisch aufgestreut.
Genuss
Bircher-Benner empfahl sein Müesli als Frühstück, Abendbrot oder ersten Gang beim Mittagsmahl, niemals jedoch als Nachtisch oder Mahlzeit. Die Hauptsache der Spys war der Apfel, nicht das Getreide; deshalb die bewusst kleine Menge der Haferflocken. Im Gegensatz zu traditionellen Getreidespeisen wird das Müesli kalt genossen.
Eine Zufallsentdeckung
Im Herbst 1894 erkrankte der damals 27-jährige Bircher-Benner so schwer an einer Gelbsucht, dass er nichts mehr zu essen vermochte. Beim Zubereiten des Abendessens schob ihm seine Frau eine dünne Apfelscheibe zwischen die Lippen. Das schmeckte ihm so gut, dass er sich während Tagen nur von Äpfeln ernährte und bald darauf genas. Später, als er auf Bergwanderungen die kraftstrotzenden, kerngesunden Alphirten bewunderte und von einer feschen Sennerin einen Brei vorgesetzt bekam, der gemahlenes Getreide, Milch, Obst und zerkleinerte Nüsse enthielt, kam ihm, kombiniert mit der Erinnerung an das seinerzeitige Genesungswunder, die zündende Idee – womit das Birchermüesli geboren war.