In der Schule war ich jene, welche mit ihrer Zeichnung nie fertig wurde», erzählt Lilly. Schon damals habe sie fast nicht aufhören können, mit ihren Farbstiften auf dem Blatt immer noch ein weiteres Detail hinzuzufügen. Das wurde etliche Jahre später, als aus der einstigen Kindergärtnerin aus Zürich eine in der lokalen Tradition malende Bäuerin im Ausserrhodischen geworden war, ihr Markenzeichen. Im Gaiser Landwirt Werner Langenegger hatte sie ihren Mann fürs Leben gefunden. Und in den folgenden Jahren vergrösserte sich die Familie um drei Mädchen und einen Knaben. Zu Beginn der Siebzigerjahre sah sie an einer Ausstellung erstmals lokale Bauernmalerei. Lilly erinnerte sich an ihre einstigen Fähigkeiten als Zeichnerin und versuchte es gleich selbst.
Erste «Brettli» und «Bödeli» im Appenzeller Stil schenkte sie der Verwandtschaft. Bald wurden ihre Bilder bekannter. Mit jedem Werk wuchs auch ihre Sicherheit für Form und Farbe. Pingelig begann sie, auf jedes kleine Detail zu achten, feinste Details hinzuzufügen, bis zum winzigen Schmetterling auf der Trockenwiese. In ihren Bildern über den bäuerlichen Alltag erzählte sie viele kleine Geschichten. «Die Illustrationen wurden immer komplizierter», lacht die inzwischen elffache Grossmutter. Gewisse optische Effekte waren eben nur durch mehrmaliges Übermalen auf einer dunklen Acrylgrundierung zu erzielen, und das Ganze wurde entsprechend zeitintensiv. Die Bergzacken von Alp Sigel und Säntis vor dem blauen Himmel sind in ihren Bildern akkurat und fast fotografisch festgehalten. Die grünen Hügellandschaften und die Bauernhöfe können von Kundigen auf den ersten Blick verortet werden. Ihre Bilder waren bald gefragt. Für so ein Bild wird – wer es schon versucht hat, weiss es – nicht in einer Ecke zu pinseln begonnen, und am Schluss kommt alles gut. Präzises Planen und Vorzeichnen sind unverzichtbar.
Es war nicht immer einfach, Musse für den zeitaufwendigen Nebenerwerb zu finden.
Beachtung und Zuspruch durch Grusskarten
Mit drei Winterkarten für Pro Juventute und einer Winterkarte für das Kinderhilfswerk UNICEF machte Lilly Langenegger Mitte der Achtzigerjahre ein grosses Publikum auf sich aufmerksam. Es kam die Einladung zum Gestalten ihres ersten Kinderbuches. «Flöckli, das Geisslein» hiess der reich bebilderte Band, der schon kurz nach dem Erscheinen 30 000 Mal über die Ladentische ging. «Bläss und Zita», die Geschichte eines Appenzeller Sennenhundes, folgte. Lillys Bilderbücher kommen mit wenig Geschriebenem aus, dafür sind viele Menschen, Tiere und kleine, eingestreute Details zu entdecken. Es ist keineswegs so, dass immer ein Bauernhof dargestellt sein muss. Lilly besuchte auch das örtliche Betagtenheim und hielt in einem Bild die Senioren beim Legen des Zahlenspiels Rummikub fest.
Bäuerin, Zeichnerin, Malerin
Es war nicht immer einfach, Musse für den zeitaufwendigen Nebenerwerb zu finden. Lilly Langenegger war ja auch als Mutter gefordert sowie als Bäuerin und Partnerin, die in den Achtzigerjahren die Umstellung des Hofes Bommes auf biologisch-dynamische Landwirtschaft, die Kreislaufwirtschaft nach Demeter-Richtlinien, mittrug. Ihre Werke brauchten Konzentration und unzählige Arbeitsstunden. Dank einiger Helferinnen und Helfer fand Lilly schliesslich die Zeit zum Malen. Es ergab sich, dass sie zeitenweise auf dem Hof einer befreundeten Bauernfamilie malen konnte, um nicht allzeit abgelenkt zu werden.
Im Dreitausend-Seelen-Dorf Gais, nordöstlich des Hauptortes Appenzell, kennen heute schon die kleinsten ABC-Schützen die weisshaarige Bäuerin vom Hof Bommes und grüssen sie freundlich. Denn anlässlich ihrer Projektwoche wurde ihnen gerade «Flöckli, das Geisslein» vorgestellt – und die Frau, die dieses gezeichnet hat. Und weil das Buch vor mehr als 25 Jahren erstmals erschien, begegnet Lilly gelegentlich schon der zweiten Fan-Generation: Junge Väter mit dem Sprössling auf dem Rücken; beide seit frühster Jugend «Flöckli»-Fans. Es gibt heute den unguten Trend, schon Kleinkinder mit einem Handy «ruhig zu stellen» und sie Videos schauen zu lassen. Dabei ist wissenschaftlich belegt, dass das Gehirn der Kleinsten noch gar nicht dazu in der Lage ist, mit den zuckenden Farben, schrillen Tönen und schnellen Bildschnitten umzugehen. Wenn das Baby scheinbar gebannt auf das Smartphone schaut, erlebt es doch puren Stress. Das Büchlein mit den Bauernhofbildern ist die bessere Alternative. «Schon Kinder im frühen Alter von anderthalb Jahren vertiefen sich gerne in die farbigen Welten mit den vielen Tieren», weiss Lilly Langenegger.
«Best of» im «Mini Lilly»
Eigentlich dachte die 77-jährige Künstlerin, ihr Kinderbuch «Tigerli kommt heim», das Abenteuer eines Bauernhofkätzchens, sei ihr letztes Bilderbuch gewesen. Denn ein Handicap, ein Rückenleiden mit Ausstrahlung in die Armmuskulatur, schränkt heute ihre Möglichkeiten zum Zeichnen und Malen massiv ein. Dass jetzt trotzdem noch ein Buch erschien, sei zuerst die Idee einer Buchhändlerin im Bücherladen Appenzell gewesen. Sie schlug eine Art «Best of» im kleinen Format vor. Lilly Langenegger und ihr Buchverlag nahmen die Anregung gerne auf. Sie wählten dazu Bilder aus Lillys drei bekanntesten Büchern für ein Album aus. Die Auswahl sei nicht einfach gewesen, sagt Lilly. Die Verantwortlichen des Verlags und sie hätten lange diskutiert, immer darauf bedacht, Bilder oder Ausschnitte auszusuchen, auf denen es vieles zu entdecken und beschauen gäbe. «Mini-Lilly» ist nun auch für die ganz Kleinen geeignet: 18 mal 18 Zentimeter gross, auf unverwüstlichen Karton gedruckt. Malte Lilly früher Tafeln im meterlangen Breitformat, die von Liebhabern und Sammlern von überall her erworben wurden, kann sie heute mit ihren Problemen in der Hand nur noch Bilder wie Stickereizeichnungen im kleinen Format schaffen. Und zusammen mit ihrem Mann Werner bereitet sie gerade den Umzug vor, weg von dem an die nächste Generation übergebenen, heimeligen Hof «Bommes» mit dem grossen Bio-Produkte-Hofladen, hinüber in eine altersgerechte, helle Wohnung im Dorf.
Lilly und ihr Werk entdecken: www.lilly-langenegger.ch