Zwar gab es vor der elektronischen und der mechanischen Uhr auch schon Zeitmesser, so die Sonnenuhr mit dem wandernden Schatten, die Wasser- und Sanduhr sowie die Öl- und Kerzenuhr. Doch bevor sich der Mensch mit Zeitmessung befasste, kannte die Natur längst die biologische, innere Uhr, ein ausgeklügeltes Meisterwerk.
Blumen- und Vogeluhr
Je zivilisierter die Menschheit wurde, desto mehr verspürte sie das Verlangen nach Einteilung und Messung der Zeit. Doch was tun, wenn keine Uhr zugegen ist? Ganz einfach: auf die Vögel hören und die Blumen beobachten. So legte der berühmte schwedische Naturforscher Carl von Linné bereits 1751 eine Blumenuhr vor, die auf dem zeitlich gestaffelten Sichöffnen und -schliessen verschiedener Blütenpflanzen basierte und recht präzise zu sein schien. Noch detaillierter versuchte eine Vogeluhr aus dem 19. Jahrhundert eine Skala der Zeitmessung zu konstruieren; eine Kostprobe daraus: 1.30 – 2.00 Uhr Buchfink, 2.00 – 2.30 Mönchsgrasmücke, 2.30 – 3.00 Wachtel, 3.00 – 3.30 Weissbartgrasmücke, 3.30 – 4.00 Amsel, 4.00 – 4.30 Pirol, 4.30 – 5.00 Weidenmeise, 5.00 – 5.30 Hausspatz. Dieser Bio-Chronometer sollte jedoch nicht allzu ernst genommen werden; denn Vögel zwitschern zwar zu festen Zeiten, jedoch sich zeitlich überlappend.
Liebes-Chronometer
Nicht alle spüren den «Frühling» zur selben Zeit, so fällt die Brunft beim Hirsch auf Oktober, bei der Gams dauert sie bis November, und das Schwarzwild rauscht sogar erst im Dezember. Die Rehe dagegen paaren sich bereits mitten im Hochsommer, lassen dann aber die befruchteten Eizellen fast ein halbes Jahr ruhen, ehe die Einnistung in die Gebärmutter und damit das Embryonalwachstum einsetzt. Doch wie «tickt» eigentlich diese «Liebesuhr» – zum Beispiel bei den Rehen? Die länger werdenden Tage im Frühsommer stimulieren die Hypophyse (Hirnanhangdrüse) und setzen dadurch die Produktion von Geschlechtshormonen in Gang. Den eigentlichen Brunfttermin bestimmen die Geissen, indem sie bereits in der Vorbrunft Pheromone (Dufthormone) aussenden, auf welche die Böcke reagieren. Doch wirklich paarungsbereit sind sie nur während weniger Stunden. Ähnlich wie beim Vogelzug, so spielt auch bei der Brunft das Wetter keine Rolle. Indirekt allerdings schon; denn Rehgeissen können bei ungünstiger Witterung die Tragzeit ein klein wenig verlängern, weshalb der Setztermin in der gleichen Population von Jahr zu Jahr etwas schwanken kann. Eine solche Zeitverschiebung überträgt sich dann aber auch auf den nächsten Eisprung und den erneuten Brunftbeginn.
Innere, biologische Uhr
Auch in unserem Körper ticken Uhren, und zwar Abermillionen. Alle Lebewesen richten sich in ihrer Tagesrhythmik nach inneren, biologischen Uhren. Diese molekularen Schrittmacher steuern – der Erdrotation gehorchend – einen Grossteil der biologischen Funktionen in einer Periode von ungefähr 24 Stunden, was etwa einem Tag entspricht. Dafür hat man, zusammengesetzt aus den lateinischen Wörtern circa (ungefähr) und dies (Tag), den Begriff zirkadianer Rhythmus geprägt. Jener wird gesteuert durch Lichtwahrnehmung über noch nicht schlüssig erforschte Rezeptoren. Diese innere Uhr funktioniert wie ein Schwingkreis, der den Tagesrhythmus regelt. Sie hilft uns zum Beispiel beim Einschlafen oder Erwachen, kann aber auch irritieren bei Reisen in andere Zeitzonen. Oder sie verwirrt uns in unterirdischen Anlagen ohne Tageslicht, weshalb in militärischen Festungen und Kommandobunkern 24-Stunden-Zifferblätter zur Anwendung kamen. Missachtung des Biorhythmus kann zu chronischen Erkrankungen von Schichtarbeitern führen oder zu Konzentrationseinbussen, was die Häufung von Industriestörfällen in den frühen Morgenstunden belegt.
Auch in unserem Körper ticken Uhren, und zwar Abermillionen.
Angeborenes Zeitgefühl
Wie eine innere Uhr funktioniert, zeigt sich am Beispiel der Zugvögel, die sich nicht nach dem Wetter, sondern am saisonalen Verlauf der Tageslänge orientieren. Werden die Tage im Herbst kürzer, beginnen sie mit den Vorbereitungen für den Distanzflug durch Aufbau von Fettreserven als Reiseproviant, oft bis zur Verdoppelung des Eigengewichts. Vorher haben sie schon in der sommerlichen Mauser ihr Federkleid erneuert. Selbst der Stoffwechsel wird derart umgestellt, dass die Vögel während des Langdistanzfluges bis zu 95 Prozent der notwendigen Betriebsenergie aus dem Körperfett beziehen können. Aber nicht nur die Physiologie, auch das Verhalten wird von der inneren Uhr umgepolt. Vor dem Zug werden viele sonst rein tagaktive Vögel plötzlich nachtaktiv. Selbst gefangen gehaltene Zugvögel zeigen diese nächtliche Unrast mit Hüpfen und Flattern, wobei diese Aktivitäten auf die angeborene Zugrichtung ausgerichtet sind und zudem bei Langstreckenfliegern ausgeprägter ausfallen als bei Kurzstreckenziehern. Dies deutet auf ein vererbtes Richtungsund Distanzgefühl hin.
Keine Bahnhofsuhren
Als man Ende der Fünfzigerjahre die biologischen Uhren bei Fliegen und Menschen entdeckte, ging man noch davon aus, dass ein solcher Zeitgeber nur im Gehirn angesiedelt sein könne. Doch nachdem sich solch zirkadiane Rhythmen auch in Bakterien, Pilzen und Pflanzen nachweisen liessen, war klar, dass auch Körperzellen über eigene biologische Uhren verfügen müssen. Die Forschung konnte nachweisen, dass es auch in Organgeweben und Einzelzellen Taktgeber gibt, die unabhängig von einer zentralen Schaltstelle funktionieren. Sie hängen also nicht wie eine Bahnhofsuhr an einer Mutteruhr. Und dennoch scheint es einen Zusammenhang zu geben, indem die dezentralen Uhren der Wirbeltiere mit der Zirbeldrüse im Gehirn zusammenarbeiten, welche durch Ausschüttung des Schlafhormons Melatonin den Tagesrhythmus steuert.
Geniales Clock-Gen
Nach aktuellem Stand der Forschung sind das Protein Melanopsin, das in den Nervenzellen des Auges zu finden ist, und eine Gruppe von lichtaktiven Substanzen, die Cryptochrome, für die Lichtinteraktion tierlicher Biouhren verantwortlich. Durch sie werden Impulse ans Gehirn gesendet, das dann Botenstoffe in die Blutbahn abgibt und so die Milliarden von Körperuhren mit der Erdrotation abstimmt. Am Zebrafisch wurde die Aktivität des sogenannten Clock-Gens untersucht, das im Tierreich massgebend für das Funktionieren der zirkadianen Uhr verantwortlich ist. Das Ergebnis: Die Clock-Aktivität schwankte im Tagesablauf nicht bloss im Gehirn, sondern auch in anderen Organen. Dies spricht dafür, dass es sich bei den dezentralen Uhren nicht bloss um externe Zifferblätter einer Zentraluhr handelt.
Die Schicksalsuhr
Neben der zirkadianen Uhr, welche die periodischen Abläufe des Lebens steuert, gibt es auch noch die langsamer, aber umso unerbittlicher «tickende» Lebensuhr. Sie bestimmt, wann die ersten Barthaare spriessen, wann das Körperwachstum aufhört, wann die Haut altert oder die Haare ergrauen. Dieser Schicksals-Chronometer, der individuell die Lebensspanne bemisst und über dessen Funktionsweise man noch rätselt, gleicht einer auslaufenden Sanduhr, die sich nicht umdrehen lässt.
Nobelpreis an Chronobiologie
Wie aktiv die Erforschung der biologischen Uhr ist, belegt die Tatsache, dass der Forschungszweig, der sich damit befasst – die Chronobiologie – auch schon mit dem Nobelpreis für Medizin beehrt wurde. Die Wissenschaftler Jeffrey C. Hall, Michael Rosbash und Michael W. Young, alle drei aus den USA, erhielten ihn für ihre «Entdeckungen der molekularen Mechanismen, die den zirkadianen Rhythmus kontrollieren».
Sie erbrachten den Nachweis, dass die innere Uhr genetisch verankert ist.