Gleich zu Beginn des Angriffskrieges auf die Ukraine im Februar / März 2022 wurde der Milchsektor vor sehr grosse Herausforderungen gestellt. Die Versorgungsketten zwischen Landwirtschaft, Verarbeitung und Handel waren gestört. Zudem wurde die Produktions- und Logistikinfrastruktur stark zerstört. Wegen der benötigten Kontinuität in der Milchproduktion und der gegenseitigen Abhängigkeit von Produktion und Verarbeitung spitzte sich die Situation weiter zu.
Produktion runterfahren
Um Futter zu sparen, reduzierten die Landwirtschaftsbetriebe in Frontnähe die Fütterung auf zwei statt wie bisher drei Portionen pro Tag, womit eine geringere Milchleistung der Kühe in Kauf genommen wurde. Wegen des Beschusses und zerstörter Strassen war der Zugang zu den Höfen oft eingeschränkt, was Arbeiten wie das Melken erschwerte. Da die Betriebe die Milch oft nicht an die Verarbeitungsbetriebe liefern konnten, gaben sie diese kostenlos an die örtliche Bevölkerung ab. In einigen Fällen musste die Milch entsorgt werden. Als letzten Ausweg versuchten manche Landwirtschaftsbetriebe, den Viehbestand in sicherere Regionen der West- und der Zentralukraine zu verlagern.
Vertriebenes Vieh streunte in Wäldern und Feldern herum.
Geplündert, zerstört, vernichtet
In den besetzten Gebieten wurden viele landwirtschaftliche Betriebe ganz oder teilweise zerstört. Viele Landwirtinnen und Landwirte konnten ihre Tiere weder melken noch füttern. Eine grosse Zahl der Höfe wurde von den Invasoren geplündert, die Felder vermint und Viehbestände vernichtet. Vertriebenes Vieh streunte in Wäldern und Feldern herum. Ein Teil der milchverarbeitenden Betriebe stellte die Arbeit ein, andere machten trotz der extremen Bedingungen weiter. In den besetzten Gebieten gingen über 100 Milchviehbetriebe und 38 Molkereien verloren.
Wer kauft noch Milch?
Doch auch auf Betrieben in weitgehend verschonten Regionen kam es in den ersten Kriegsmonaten zu starken Beeinträchtigungen. Die Versorgung mit Futter, Tierarzneimitteln oder Ersatzteilen war durch die zerstörte Logistik unterbrochen. So stiegen die Preise, und verschiedene Hilfsstoffe für die Fütterung waren kaum erhältlich. Zudem herrschte durch die Mobilmachung Personalmangel. Die Molkereien hatten auch mit dem Rückgang des Absatzmarktes zu kämpfen, denn rund vier Millionen Menschen verliessen im ersten Kriegs monat das Land. Schliesslich kam der Export von Milchprodukten aufgrund der Blockade der Schwarzmeerhäfen durch Russland fast völlig zum Erliegen. All dies führte zu hohen Rohmilchbeständen bei den Molkereien und einem entsprechenden Rückgang der Preise für Milch ab Hof. Die Verarbeitungsbetriebe begannen, überschüssige Rohmilch zu Produkten mit langer Haltbarkeit zu verarbeiten (zum Beispiel Milchpulver oder technisches Casein).
Erstaunliche Erholung
Trotz aller Schwierigkeiten passte sich die Branche an, und die Milchwirtschaft erholte sich weitgehend. Bereits ab April 2022 nahmen 65 Prozent der Verarbeitungsbetriebe ihre Arbeit wieder auf. Dies ging einher mit der Rückeroberung der nördlichen Gebiete der Ukraine, sodass auch dort die Milchwirtschaft wieder anlief. In den befreiten Regionen fehlte es aber an Futter, Treibstoff, Tierarzneimitteln, Ersatzteilen und Personal. Ausserdem waren jene Betriebe, die sich in der Kampfzone befanden und besetzt waren, teils schwerwiegend zerstört. Sie hatten 30 bis 50 Prozent ihrer Viehbestände verloren. Überdies mussten die meisten ihre Kühe wieder auf die Laktation einstellen, weil diese während der Besetzung und der nachfolgenden Entminung über einen Monat nicht gemolken wurden.
Die meisten mussten ihre Kühe wieder auf die Laktation einstellen.
Ausländische Berufskollegen, Unternehmen und öffentliche Organisationen unterstützten die ukrainischen Landwirtinnen und Landwirte und leisten noch immer humanitäre Hilfe. Die Schweiz finanzierte ein Projekt zur Unterstützung von 296 Milchviehbetrieben in vier befreiten Regionen (Tschernihiw, Kiew, Charkiw und Sumy) mit 2,5 Millionen Schweizer Franken.
Rettung durch Exportanstieg
Bis Ende Mai 2022 waren bereits fünf Millionen Menschen geflüchtet. Neben der kriegsbedingten Wirtschaftskrise führte dies noch einmal zu einem Rückgang des Konsums von Milchprodukten und zu hohen Lagerbeständen. Die weitere Entwicklung der Milchwirtschaft hing nun wesentlich vom Export ab. Als Hilfe beschlossen das Europäische Parlament sowie Kanada und Grossbritannien, die Einfuhrzölle für den Import von landwirtschaftlichen Erzeugnissen und Lebensmitteln aus der Ukraine vorläufig zu erlassen. Die Bedingungen auf dem Weltmarkt und vor allem in Europa waren günstig, besonders in den ersten drei Quartalen des Jahres 2022, die durch einen Preisanstieg für Milchprodukte gekennzeichnet waren. Die Gesamtausfuhr von Milchprodukten stieg 2022 im Vergleich zu 2021 um 36 Prozent. Dank der Zollprivilegien steigerte die Ukraine ihre Ausfuhren und stieg in die Top-Zehn-Exportländer für Butter- und Casein-Exporte auf.
Stromausfälle im Herbst
Die vorsätzliche Beschädigung der Energieinfrastruktur durch Raketenangriffe im Herbst zog die Milchwirtschaft erneut in Mitleidenschaft. Aufgrund wiederkehrender Stromausfälle kam es zu Unterbrechungen der Melkarbeiten. Dies wirkte sich negativ auf die Gesundheit der Kühe aus, und viele mussten geschlachtet werden. In den Molkereien führte das Unterbrechen der Stromversorgung zum Verderb von Milchprodukten. Die Landwirtschafts- als auch die Verarbeitungsbetriebe waren gezwungen, Generatoren zu kaufen oder zu leasen und mehr für Strom zu bezahlen, was zu einem Anstieg der Produktionskosten um 10 bis 15 Prozent führte. Trotz der Schwierigkeiten und Zerstörungen während des Kriegsjahres arbeiteten die ukrainischen Milchviehbetriebe weiter und versuchten mit allen Mitteln, die Viehbestände zu erhalten. Niemand wollte vorzeitig Kühe schlachten, die Landwirte und Landwirtinnen gaben erst auf, wenn der Betrieb völlig zerstört war. Insgesamt ging der Milchviehbestand in der Ukraine im Jahr 2022 um rund 200 000 Kühe zurück, wobei er sich auf Familienbetrieben am meisten reduzierte. Entsprechend sank die Milchproduktion um 12 Prozent auf 7,7 Millionen Tonnen.
Nach dem Krieg
Die Landwirtschafts- und die Verarbeitungsbetriebe erweisen sich während des Kriegs als sehr widerstandsfähig, und sie erfüllen ihre Aufgabe an der wirtschaftlichen Front. Dabei übernehmen Landwirtinnen und Landwirte auch eine soziale Verantwortung, indem sie Lebensmittel – nicht nur Milch, sondern auch andere Hofprodukte – an die lokale Bevölkerung und die Geflüchteten verteilen. Die meisten beteiligen sich an freiwilligen Aktivitäten und versorgen die ukrainische Armee mit Autos, Munition und anderen nötigen Gegenständen.
Die ukrainische Milchwirtschaft hatte in den letzten zwei Jahrzehnten ihre hohe Rentabilität und Wettbewerbsfähigkeit unter Beweis gestellt. Das bereits vor dem Krieg bestehende Milchdefizit wird sich durch die Zerstörung von Produktionsmitteln noch vergrössern, sodass die Produktionsmengen zuerst für die Deckung des inländischen Bedarfs erhöht werden müssen. Das Land dürfte deshalb nach dem Krieg für Investoren besonders interessant sein.
Milchproduktion in der Ukraine
Ein typischer Milchviehbetrieb in der Ukraine hat mehr als 1000 Hektaren Fläche und einen durchschnittlichen Viehbestand von 250 Tieren. Ein solcher Betrieb hat in der Regel Mitarbeitende angestellt. Die Milchviehhaltung ist ein Teil des gesamten landwirtschaftlichen Betriebs, der in der Regel auch Ackerbau betreibt, Rinder mästet und andere Tiere hält.