Prix Agrisano
Im tiefen Appenzell ist Lydia Fässler zuhause. In ihrer Küche liegen zahlreiche Glückwunsch- und Trauerkarten und ein Foto ihres Enkels, der inmitten von hunderten gestrickten Socken, Kappen und Pullovern sitzt. Man fragt sich sogleich, ob Lydia Fässler selbst so gerne strickt? Die Antwort ist: «Nein, das sind alles Spenden.»
Freiwillig und unentgeltlich
Lydia Fässler ist Geschäftsführerin des Vereins «Bäuerlicher Sorge-Chrattä». Ziel des Vereins ist die finanzielle Unterstützung von Bauernfamilien, die in Not geraten sind, zum Beispiel durch Unfall, Krankheit, Todesfall und so weiter. Bei unserem Besuch zeigt sich aber, dass noch viel mehr als «nur Geld» dahintersteckt. «Bis jemand anruft, braucht es viel. Aber ich spüre, dass die Landwirte, die Hilfe erhalten, sich wieder etwas wert fühlen». Sie würden merken, dass doch jemand für sie da ist, wenn sie in Not sind. «Das kann neue Energie und Lebensfreude bringen», ergänzt Fässler mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck. Sie und der restliche Vorstand mit Berta Amgarten, Präsidentin, Annemarie Wyrsch, Aktuarin, und Ingeborg Schmid, Revisorin, machen ihre Arbeit freiwillig und unentgeltlich. Und sie machen es gerne: «Ich staune oft, wie die Bäuerinnen und Bauern in schweren Fällen wieder auf die Beine kommen und der Zusammenhalt in deren Familien noch mehr wächst. Das ist richtig schön zu sehen», erläutert Fässler. Der Verein unterstütze vor allem kleinere Betriebe, für welche eine Spende von 3000 Franken schon sehr viel ist.
Aus und für die Landwirtschaft
Der Verein selbst finanziert sich über Mitgliederbeiträge, Spenden und den Verkauf der Glückwunsch- und Trauerkarten. Jeder eingehende Antrag wird genau von Fässler, Amgarten und Wyrsch geprüft. Trotzdem gehe es schnell, wenn es wirklich nötig sei. Alle vier Frauen aus dem Vorstand haben oder hatten zuhause einen Landwirtschaftsbetrieb und kennen sich mit dem Metier und den Problemen aus eigener Erfahrung aus. «Das ist wichtig, denn die Hilfesuchenden sollen sich aufgehoben fühlen», so Fässler.
Kleine Geschenke bewirken viel
Nun aber zurück zu den Wollsachen: In der Vorweihnachtszeit erhält Fässler zahlreiche Spenden von Wollsachen. Sie verpackt diese in Geschenkpapier und verschickt sie per Post – beispielsweise an alleinstehende ältere Landwirte. «Einmal habe ich gleich nachdem der Mann das Paket erhalten hatte, ein grosses Dankschreiben per E-Mail erhalten. Das war aber nicht genug: Am nächsten Tag rief jener noch bei mir an, um sich noch einmal von Herzen zu bedanken», erzählt Fässler. Das Telefonat sei länger als eine halbe Stunde gegangen. Fässler freut`s, denn so stellt sie immer wieder fest, dass ihre Arbeit wichtig ist und stark geschätzt wird.
Im Stillen wirken
«Der Verein ‹Bäuerlicher Sorge-Chrattä› hat den Prix Agrisano erhalten, weil ein grosser freiwilliger Einsatz da ist und die Uneigennützigkeit offensichtlich war», sagt Ueli Tobler, Vize-Präsident der Jury. An der Sitzung der Landwirtschaftskammer am 28. April 2017 durfte der Verein den Preis in der Kategorie «juristische Personen» entgegennehmen. «Beide Preisträger wirken im Stillen und genau das wollen wir unterstützen», sagt Christian Scharpf, Geschäftsführer der Agrisano Stiftung, welche den Preis vergibt. Der Zweck der Stiftung ist unter anderem, soziales Engagement zu unterstützen und die Sicherheit in der Landwirtschaft zu fördern. Auch der Preisträger in der Kategorie «natürliche Personen» Pierre-André Schütz engagiert sich für Bäuerinnen und Bauern.
Leidenschaften
Pierre-André Schütz aus Autavaux (FR) hat eine Leidenschaft für Kommunikation und teilt diese wie auch andere seiner Leidenschaften gerne mit anderen Menschen. An erster Stelle steht seine Erd- und Naturverbundenheit, die auch auf seiner 35-jährigen Berufstätigkeit als Landwirt basiert. Rund um den renovierten Bauernbetrieb hat es einige junge Obstbäume, zwischen denen im Sommer zwei bis drei Rinder weiden können. Als grosser Menschenfreund und Familienmensch lebt er mit seiner Frau in der Erdgeschosswohnung, während eine seiner vier Töchter mit ihrer Familie den ersten Stock bewohnt. Der Glaube ist seine zweite Berufung, deshalb hat er, bereits etwas älter, noch ein Theologiestudium absolviert und kümmert sich als Pfarrer um die Menschen der Kirchgemeinde Lucens-Curtilles (VD).
Erste Anzeichen erkennen
Als er feststellte, dass in der Landwirtschaft nicht alles zum Besten steht und sich einige Bauern womöglich in Schwierigkeiten befinden, begann er 2015 sich als kantonaler Seelsorger zu engagieren und vertritt die reformierte und katholische Kirche des Kantons Waadt im Amt für Landwirtschaft. Bald war die Arbeit mit einer 50-Prozent-Stelle nicht mehr zu bewältigen und es wurde zusätzlich eine 30-Prozent-Assistenzstelle geschaffen. Das Projekt, das Schütz umzusetzen hat, richtet sich an all jene Personen, die täglich mit den Landwirten in Kontakt stehen. So werden beispielsweise landwirtschaftliche Berater, Tierärzte und Milchkontrolleure in Kursen geschult, damit sie erste Anzeichen erkennen können, die einer Depression, einem Burn-out oder einer belastenden Isolation vorausgehen.
Auf die Probleme eingehen
Wird Pierre-André Schütz gerufen, trifft er vor Ort in erster Linie auf einen Menschen, den er als Bauer und Mann des Glaubens wahrnimmt. «Man muss die Situation und die Ursachen der Probleme, die generell vielschichtig sind, intuitiv erfassen. Teilweise sind sie wirtschaftlicher oder technischer Natur, häufig sind es aber Probleme auf Beziehungsebene. Der Beruf des Landwirts ist schwierig und die Gelegenheit zum Austausch bietet sich immer seltener. Wenn der Bauer die Milch nicht mehr in der Molkerei abliefert, die Dorfbeiz schliesst und jeder mit eigenen Maschinen ausgestattet ist, um die Arbeit alleine zu erledigen, kann es vorkommen, dass der landwirtschaftliche Unternehmer auf seinem Betrieb völlig isoliert ist», erklärt Pierre-André Schütz, «Die Landwirtschaft befindet sich in einer schwierigen Situation und oft sind es verschiedene Faktoren, die für jemanden zur Belastung werden können. Man darf aber nicht vergessen, dass es den meisten Landwirten gut geht». Mit dem Prix Agrisano wird Pierre-André Schütz als Mensch und für seine Lebensleistung gewürdigt.
AutorenGabriela Küng und Jean-Pierre Burri, UFA-Revue, 8401 Winterthur