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Landleben

Vom Schnörrli bis zum Schwänzli

Dank Archäozoologie, welche sich auch mit den Schlacht- und Küchenabfällen unserer frühen Vorfahren beschäftigt, lässt sich die Esskultur bis zu 10 000 Jahre zurückverfolgen. Der Mensch war im Lauf der Zeit immer weniger wild auf Wild; dafür wurden seine Tischsitten zunehmend verschwenderischer.

Während die Jagdbeute so zur Verfügung steht, wie sie die Natur erschuf, hat der Mensch das domestizierte Nutztier durch langfristige Zuchtselektion im...

Während die Jagdbeute so zur Verfügung steht, wie sie die Natur erschuf, hat der Mensch das domestizierte Nutztier durch langfristige Zuchtselektion im Sinne markanter Produktionssteigerung verändert; so wurde etwa die sport-lich-elegante Wildsau zum massigen Fleischtier. 

(adobestock.com (Vorlage NMB))

Publiziert am

Zootierarzt und Wissenschaftspublizist

Der Speisezettel unserer Vorfahren seit urgeschichtlichen Zeiten wird heute mit modernsten Methoden der Archäozoologie rekonstruiert. Essabfälle, vor allem Knochen, erlauben Rückschlüsse auf Ernährungsgewohnheiten, jagdliche Auslese unter den Wildtieren, Schlachtalter der Nutztiere und Zerlegemethoden.

Beispiele aus vier Epochen

Der Mensch hat sich im Lauf der Evolution zum Nahrungsspezialisten entwickelt, zum Gemischtkostesser mit guten Möglichkeiten, eiweissreiche Nahrung tierischen Ursprungs zu nutzen. Dafür sprechen Gebiss und Verdauungssystem. Wild war eine der Möglichkeiten, die Nahrung energiereicher zu gestalten. Über vier Epochen lässt sich verfolgen, wie das Wildbret mit der aufkommenden Nutztierhaltung und zunehmenden Zivilisation an Bedeutung verlor.

Jäger der Mittelsteinzeit

Als die letzte Eiszeit zu Ende ging, breitete sich über das Gebiet der heutigen Schweiz eine strauchige Tundra aus, die dann dem aufkommenden Waldwuchs wich. Das war 8000 bis 5000 Jahre vor der Zeitrechnung. Die Menschen der Mittelsteinzeit (Mesolithikum) streiften als jagende Nomaden durch die wald- und wildreiche Gegend. In Höhlen und Zelten wohnend, fertigten sie aus Feuerstein Werkzeug und Waffen. Der Fleischanteil ihrer Nahrung bestand zu hundert Prozent aus Wildbret. Ein solcher Siedlungsplatz der Mesolithiker war jener der Birsmatten-Basisgrotte bei Nenzlingen, in einer Felshöhle des Birstals. Über 15 000 Knochen und Splitter wurden bei den Ausgrabungen gefunden; doch nur knapp 2000 davon konnten Tierarten zugeordnet werden.

Keine Verschwendung

Die frühen Birsmatten-Bewohner nutzten in ihren Jagdgründen Biber, Otter, Fische und Frösche aus der Birs sowie Hirsch und Wildschwein von der Talsohle und Gams ab den Jurahöhen.

Sie zeigten sich sehr ökonomisch im Umgang mit den mühsam erbeuteten Ressourcen. Beutetiere wurden bis aufs Letzte verwertet. Selbst kleinste Knöchelchen wurden aufgebrochen, um das fettreiche Mark zu nutzen.

Was würden die Mesolithiker denken, wenn sie sähen, wie die heutige Gesellschaft Innereien, Euter, Schweinsfüsse und manchmal sogar Kalbsköpfe als Schlachtabfall behandelt oder männliche Eintagsküken und alte Suppenhühner massenweise entsorgt? Bei den Siedlungsplätzen im Birstal kamen die Archäozoologen zum Schluss: Dominant auf dem Speisezettel waren Wildschwein und Hirsch, vor Biber, Reh, Gams und Dachs. Andere Mesolithiker-Siedlungen im Mittelland unterschieden sich von den jurassischen in der Wildbrethitparade: mehr Elch, dafür keine Gams.

Jägerbauern der Jungsteinzeit

Um 5000 vor Christus lebten die ersten «Bewegten»; die alles auf den Kopf stellten. Statt den Tieren jagend nachzustellen, zähmten und züchteten sie diese. Pflanzen wurden nun bewusst kultiviert. So wurden sie sesshafte Viehzüchter und Ackerbauern, die mit Rodungen die Landschaft veränderten. Ihre Siedlungen errichteten sie vermehrt an Seen, was Wassertransporte und Fischfang ermöglichte. Der Hausrat wurde komfortabler: fein gearbeitetes Werkzeug aus Materialien wie Feuerstein, Knochen und Hirschgeweih, ergänzt mit Gefässen aus Ton. Bekannt aus der Jungsteinzeit (Neolithikum), rund 5000 bis 2000 Jahre vor Christus, ist das Siedlungsgebiet von Twann am Bielersee.

Wild war eine der Möglichkeiten, die Nahrung energiereicher zu gestalten.

Mehr Rind, weniger Hirsch

Die Haustiere dominierten jetzt auf dem Speisezettel mit 65 Prozent gegenüber dem Wild. Grösster Fleisch-, aber auch Milch- und Düngerlieferant war das Rind, vor Schaf und Ziege. Trotzdem spielte die Jagd mit 35 Prozent Wildbretanteil immer noch eine markante Rolle. Vor allem der Rothirsch, aber auch Wildschwein und Reh lieferten tierisches Eiweiss. Daneben konsumierten die Neolithiker kultivierte und gesammelte wilde Pflanzen. Schon damals gab es so etwas wie Ernährungslandschaften mit erheblichen Abweichungen auf dem Speisezettel: So ernährten sich die jungsteinzeitlichen Siedler am Burgäschisee (nicht weit entfernt vom heutigen Museum für Wild und Jagd auf Schloss Landshut, Utzenstorf) fast ausschliesslich von Wildtieren, während die Fleischration ihrer Zeitgenossen vom unteren Zürichsee sich zu 80 Prozent auf Nutztiere abstützte.

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Anhand von Schlacht- und Küchenabfällen aus grauer Vorzeit rekonstruiert die Archäozoologie die Speisekarte unserer Vorfahren.

(Bild: Barbara Stopp, IPNA, Universität Basel)

Bauernjäger des Mittelalters

Zur Gründungszeit der Eidgenossenschaft dominierte die Viehzucht, und dennoch war des Jägers Lust noch keineswegs erloschen, sodass Wilhelm Tell nicht von ungefähr als Gamsjäger charakterisiert wird, wenn Sohn Walther das Lied «Mit dem Pfeil, dem Bogen» singt und Jäger Werni beteuert: «Das wissen wir, die wir die Gemsen jagen.» – «Bleib heute nur dort weg. Geh lieber jagen», rät Hedwig ihrem Tell, und selber brummt er in den Bart, dieweil er hinterm Holunderstrauch auf Gessler lauert: «Das Geschoss war auf des Waldes Tiere nur gerichtet, meine Gedanken waren rein von Mord.» Wie auch immer, sicher ist: Zwanzig Kilometer Luftlinie östlich von Bürglen, wo Tell gelebt haben soll, lag auf 1650 m ü. M., oberhalb des glarnerischen Braunwald, die «Alpwüstung» Bergeten, von der man archäozoologisch Genaueres weiss.

Primär Rind, marginal Wild

Die Siedlung Bergeten war im 13./14. Jahrhundert jeweils im Sommerhalbjahr bewohnt. Die alpine Hirtenbevölkerung hinterliess nur wenig Abfall: ein paar Hufeisen und lediglich knapp 500 Knochen. Immerhin war festzustellen: Fleischlieferanten auf Bergeten waren die melkbaren Hornträger, vorab das Rind, aber auch Ziege und Schaf. Knochen- und Jagdwaffenfunde wiesen zudem darauf hin, dass daneben auch gejagt wurde, nämlich Bär, Gams, Murmeltier und Hase. Dass die Jagd bereits auf dem absteigenden Ast war, belegen auch andere Ausgrabungen der gleichen Epoche in den Alpen und im Mittelland: Der Wildbretanteil am konsumierten Fleisch betrug nur noch fünf Prozent.

Beutetiere wurden bis aufs Letzte verwertet.

Konsumenten der Gegenwart

Jahrhunderte nach unserer Zeit dürfte es die Archäozoologie noch schwieriger haben; zwar hinterlässt unsere Konsum- und Wegwerfgesellschaft unendlich mehr Ernährungsmüll (an die fünf Millionen Tonnen pro Jahr), doch weniger in Form von Knochen als vielmehr von Konservenbüchsen. Wild spielt auf dem Teller der modernen Gesellschaft nur noch eine marginale Rolle: nur gut ein Prozent des gesamten Fleischkonsums. Die Fleischstatistik lautet: Mehr als 440 000 Tonnen Schlachtgewicht von Nutztieren und gut 70 000 Tonnen Fische, Weich- und Krustentiere stehen rund 5000 Tonnen Wildbretgewicht gegenüber. Von dieser Menge Gesamtwildbret sind etwa 2800 Tonnen importiert (grossenteils von gefarmten Tieren) und nur rund 2200 Tonnen sind der einheimischen Wildbahn entnommen. Die Schweizer Gehegehaltung (Damwild) steuert rund 60 Tonnen dazu bei. Der aktuelle Jahresfleischkonsum eines Durchschnittsschweizers beträgt, ohne Knochen, gut 50 Kilogramm. Das ist fast zweimal so viel wie am Ende des letzten Weltkriegs. Doch nur knappe 500 Gramm davon stammen von Wildtieren. 

Pferde- und Hundefleisch auf dem Speiseplan

Einen guten Einblick in die Tierwelt eines prähistorischen Siedlungsplatzes auf dem Gebiet des Fürstentums Liechtenstein geben die Grabungsfunde des Eschner Lutzengüetle. Hier fand man in drei neolithischen und zwei metallzeitlichen Schichten (Bronze- und Eisenzeit) fast 5000 Wild- und Nutztierknochen, mehrheitlich aus Speiseabfällen stammend. Daraus liess sich einiges ablesen, zum Beispiel, dass in allen Schichten die Nutztierreste überwogen, vorab das Rind (und hier neben Kühen und Stieren auch schon Ochsen), gefolgt von Schwein, Schaf und Ziege. Selbst Hund und Pferd (Nutztier ab der Bronzezeit) waren Fleischlieferanten.

Bei den Wildtieren dominierten Edelhirsch und Wildschwein. Daneben wiesen die Funde auf die Existenz von Biber, Braunbär, Elch, Gams, Steinbock, Wisent, Wildpferd, Wolf und Fuchs sowie auf Sumpfschildkröten und diverse Vögel hin. Nur Fischreste fehlten oder wurden nicht mehr gefunden. Beachtenswert ist, dass die Edelhirsche von damals im Durchschnitt wesentlich grösser waren als die heutigen.

Erstaunlich ist aber, dass es offenbar schon in prähistorischer Zeit Probleme infolge nicht artgerechter Tierhaltung gab. So fand man in allen untersuchten Schichten Hunde mit Schnauzenverkürzung am Unterkiefer, vermutlich eine Folge mangelhafter Ernährung. Und ein sonst in allen anderen Grabungsschichten einheitlicher Typ des damals relativ grossen Hausschweins variierte in der Bronzezeit bezüglich Grösse gegen unten stark, scheinbar als Resultat mangelhafter Haltungsbedingungen.

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