Am Anfang war ein uralter Plan. Der ruhte in einer Schublade in der Stiftsbibliothek St. Gallen und das 1200 Jahre lang. Die fünf zusammengenähten Blätter aus Schafspergament waren säuberlich gefaltet und unter der Signatur «Cod. Sang, 1092» abgelegt. Der Abt des Klosters auf der Insel Reichenau im Untersee hatte den von einem Mönch gezeichneten Bauplan einst vor Urzeiten dem Kloster St. Gallen geschenkt. Gebaut wurde dieses Projekt nie. Es lässt in seiner Ausführlichkeit jedoch nichts zu wünschen übrig. Alles ist exakt festgehalten: 52 Gebäude mit 333 erklärenden lateinischen Beschriftungen. Nebst Kloster und Kirche finden sich da Gästehäuser, Küche, Backhaus, Brauerei, Krankenhaus, Latrinen und ein Friedhof. Teilweise gibt es Angaben für das Erd- und Obergeschoss (unten Ochsenstall, oben Heulager) und im Dormitorium, der Schlafstube der Mönche, sind sogar die Betten eingezeichnet. Auch der Gartenplan geizt nicht mit Details. Er zeigt drei Gärten: Den Hortulus, einen Medizinalgarten (meist Kräutergarten genannt), den Hortus als Gemüsegarten und einen Friedhof, der auch als Obstgarten genutzt wird (das «Paradiesgärtlein»).
Eine Idee wird Realität
Wäre es nicht spannend, diesen Plan heutzutage mit den Arbeitsmethoden von damals zu realisieren? Dies überlegten sich die Initianten Bert Geurten und Verena Scondo. Sie hatten das historische St. Gallen-Pergament in einer Ausstellung gesehen und kannten ein anderes «Lebende-Geschichte»-Projekt in Frankreich. In Guédelon im Burgund wird auf altertümliche Weise eine Ritterburg gebaut. Im deutschsprachigen Raum stiess das Vorhaben nicht auf spontane Begeisterung. Doch die Ideengeber gründeten den Verein «Karolingische Klosterstadt». Als karolingisch wird die Epoche um die Zeit von Karl dem Grossen bezeichnet. Die Standortsuche und Anfänge waren schwierig. Aber seit acht Jahren wird nun am «Campus Galli» gebaut, nahe bei Messkirch im westlichen Schwaben. Und zwar so, wie unsere Urahnen es einst taten, nämlich in mühsamer Handarbeit und mit den alten Techniken. Felsbrocken werden mit Keil und Fäustel zu Bausteinen gespaltet und Fichtenstämme mit Axt und Beil zu Balken gehauen. Etliche Gebäude und auch eine Holzkirche stehen bereits. Eine vorgesehene, grosse Abteikirche aus Stein ist noch zu erstellen.
Wer bauen wollte, musste erst seine Versorgung sichern
Es gab zu jener Zeit noch keine Infrastruktur, auf die Werktätige sich verlassen konnten. Zu jeder Baustelle musste erst eine bäuerliche Nahrungsproduktion geschaffen werden. Mittelalterliche Anbaumethode bedeutet harte körperliche Arbeit mit Hacke und Holzrechen. Die Arbeit auf den Feldern verrichteten im neunten Jahrhundert vermutlich nicht die Mönche, sondern Bedienstete. Die Mönche, die nach der Benedikt-Regel lebten, waren eher in den Werkstätten mit Beten, Gotteslob und anderem Erbaulichen beschäftigt. Auf dem Campus Galli stehen für die Landwirtschaft nach mittelalterlichem Vorbild sechs Hektaren Land zur Verfügung. Davon ist eine Hektare Bienenweide, vier sind Grünland, eine Hektare ist Ackerland. Das Grünland dient als Weide und Heuwiese. Hier versuchen die Agrar-Archäologen durch Ansaat einer artenreichen Wiese dem damaligen Grünland möglichst nahe zu kommen.
Die Gerätschaften und Arbeitsweisen des Frühmittelalters waren keineswegs primitiv, sondern teilweise ausgeklügelt.
Vergessene Sorten, altertümliche Rassen
Es werden alte Sorten gehegt und erhalten – in einer Zeit, in der die biologische Vielfalt stetig abnimmt. Auf der Ackerfläche wachsen nun die typischen Gemüsesorten jener Zeit: Kohl, Ackerbohnen, Linsen und Mangold, Pastinaken und weisse Möhren. An Getreide werden Einkorn, Roggen, Gerste, Hafer und Rispenhirse gesät. Es gab damals nur eine Ernte pro Jahr und diese wurde mit der Sichel geschnitten. In der Tierhaltung werden ebenfalls alte Nutztierrassen berücksichtigt. Die Schweine sind Düppeler Weideschweine, eine Rückzüchtung, die dem damaligen Schwein nahekommt und die noch viel vom Wildschwein hat. Die Schafe gehören zu den Skudden, einer bedrohten Schafrasse, die es schon ab dem achten Jahrhundert gegeben haben soll. Skudden könnten direkte Nachfahren der steinzeitlichen Torfschafe sein. Komplettiert wird die Haustiergruppe durch eine kleine Ziegenherde. Und mit von der Partie sind auch Hühner: Braune Italiener. Das Eggen und Pflügen, sowie teilweise das Holzrücken, übernehmen aktuell Pferde, die einem Landwirt aus der Region gehören und die nach Bedarf auf das Gelände kommen. Im neunten Jahrhundert waren dafür Ochsen im Einsatz.
Viel Urahnen-Wissen lässt sich nicht mehr rekonstruieren
Die Gerätschaften und Arbeitsweisen des Frühmittelalters waren keineswegs primitiv, sondern teilweise ausgeklügelt. Manche Techniken und Tricks lassen sich schlicht nicht mehr nachvollziehen, da es fast keine Quellen gibt. Nur auf wenigen Abbildungen und auf ein paar Bleiglas-Kirchenfenstern werden karolingische Handwerker und Bauern bei der Arbeit gezeigt. So war die Rispenhirse im Frühmittelalter ein Grundnahrungsmittel und galt als das «Brot des armen Mannes». Nachdem Kartoffeln und Mais auftauchten, wurde die Hirse verdrängt und vergessen. Seit fünf Jahren wird sie auf dem Campus Galli wieder angebaut.
Das Ausdreschen der Körner gelang gleich problemlos. Die leichten Hüllspelzen konnten durch Worfeln (Windsichten) von den schwereren Körnern getrennt werden. Aber wie dann die umhüllende Fruchtschale einst entfernt wurde, weiss niemand mehr. Dokumente erwähnen Hirsestampfer, welche dieses Getreide säuberlich in Korn und Spelze trennen konnten. Aber wie waren diese beschaffen?
Spannende Vorhaben
«In diesem Jahr werden wir uns baulich auf die Fertigstellung der Scheune konzentrieren, sowie parallel bereits mit dem nächsten Gebäude beginnen: Das spätere Nebenhaus des Abts-Hauses wird unser erstes Steingebäude auf dem Campus Galli», kündigt die Bauleitung an. «Bei der Scheune werden wir zu Saisonbeginn mit dem Aufrichten beginnen und dann hoffentlich recht bald das Strohdach eindecken können.» Hierfür wurde in den vergangenen Jahren bereits fleissig vorgearbeitet. Grosse Mengen an fertigen Strohbündeln, sogenannte Schauben, sind zum Dachdecken bereit.»
Infos für Besucher
Saisonbeginn ist am 27. März 2021, ab da kann die Klosterbaustelle von 10,00 bis 18.00 Uhr besucht werden (nur Montag geschlossen). Anfahrt ab der Schweiz: Von Kreuzlingen oder von Schaffhausen aus ist das Gelände innert einer Autostunde erreichbar – via Stockach in Richtung Sigmaringen, kurz nach Messkirch, Parkplätze gibt es direkt am Eingang.
Die mittelalterliche Klosterbaustelle finanziert sich zu einem wesentlichen Teil durch Eintrittsgelder (11 Euro pro Person, Schüler 8 Euro und Kinder 6 Euro. Für Familien gibt es eine Ermässigung).