Zum Zeitpunkt der Geburt haben Kälber keinen wirksamenImmunschutz. Erst mit der Aufnahme von Kolostrum unmittelbar nachder Geburt erhält das Kalb mütterliche Antikörper in Form vonImmunglobulinen (Abwehrstoffe). Diese Immunisierung bleibt füreinige Wochen bestehen und überbrückt somit die Zeit, bis das Kalbselbst spezifische Antikörper produzieren kann. Ein unzureichenderoder gänzlich fehlender Transfer von Immunglobulinen (IgG) mit demKolostrum erhöht das Infektionsrisiko und führt damit zu einererhöhten Sterblichkeitsrate.
Erstgemelk höchster Gehalt
Der Übertritt von IgG aus dem Blut der Kuh ins Kolostrum beginntim Zeitraum von einigen Tagen bis einigen Wochen vor dem Abkalben.Sowohl bei regulär galt gestellten wie auch bei Kühen ohneGaltphase können in diesem Zeitraum erhöhte Im-munglobulin-Spiegelim Sekret nachgewiesen werden. Es gibt einen hoch-spezifischenTransportmechanismus für Antikörper des Typs IgG (Immunglobulin G,grösster Anteil im Kolostrum), der bereits Tage bis Wochen vor derGeburt aktiv ist. Durch diesen werden Immunglobuline in denMilchdrüsenzellen und in dem wenigen zu dieser Zeit existierendenDrüsensekret (Präkolostrum) angesammelt. Nach dem ersten Melkenfällt die Immunglobulinkonzentration im Kolostrum massiv ab, da zudiesem Zeitpunkt der Transport aus dem Blut beendet ist. Kolostrumaus dem zweiten und den folgenden Gemelken kann deshalb in derRegel nicht mehr zum Immunschutz des Kalbes beitragen. Allerdingsunterscheidet sich die Milch abgesehen vom Immunglobulingehaltwährend den ersten Laktationstagen noch von «normaler» Milch.Insbesondere der hohe Energiegehalt in Form von Fett ist bedeutendfür die Stabilisierung des Stoffwechsels und die Körpertemperaturdes Kalbes.
Kolostrumqualität
Die Kolostrumqualität (IgG-Gehalt) hat eine sehr grosseVariation zwischen den einzelnen Kühen. Ist die Kolostrumqualitätunzureichend, so ist beim Kalb selbst bei rechtzeitiger Aufnahmeder ersten Milch im schlimmsten Fall kein ausreichender Immunschutzgewährleistet. Die Ursache für die grosse Variation desIgG-Transfers konnte bisher nicht geklärt werden, ist abermöglicherweise genetisch bedingt. Es konnte festgestellt werden,dass sich die Kolostrumqualität einer Kuh über mehrere Laktationenwiederholt.
Vielfach wird angenommen, dass Milchkühe mit hoherEinsatzleistung schlechteres Kolostrum haben als Kühe mit einergeringen Milchleistung. Über Jahre hinweg konnten auf verschiedenenBetrieben und bei verschiedenen Rinderrassen Erstkolostrummengenvon unter einem Kilogramm bis zu über 20 Kilogramm beobachtetwerden. Die Erstkolostrummenge ist aber weitgehend unabhängig vonder späteren Laktationsleistung. Entgegen der verbreiteten Annahme,dass Kühe mit weniger Kolostrum besseres Kolostrum haben, konntegezeigt werden, dass Menge und Qualität von Kolostrum nichtvoneinander abhängig sind.
In der Praxis werden Kühe nach dem Abkalben aus diversen Gründennicht vollständig ausgemolken. Es besteht die Annahme, dasKolostrum sei besser (konzentrierter), wenn nur die unmittelbar fürdas Kalb benötigte Menge ermolken wird. Es konnte jedoch gezeigtwerden, dass die ersten 25 Prozent der gemolkenen Milch eineähnliche IgG-Konzentration aufweisen wie die letzten 25 Prozent desGemelks. Der Fettgehalt in der ersten Gemelksfraktion ist jedochsehr niedrig. Ein nur teilweises Ausmelken führt deshalb zu einerreduzierten Nährstoffkonzentration des Kolostrums und ist nicht zuempfehlen.
Verabreichung an das Kalb
Da die Aufnahme von IgG im Darm mit zunehmender Zeit nach derGeburt schlechter funktioniert, und gleichzeitig die Immunglobulineim Kolostrum durch die zunehmende Milchbildung verdünnt werden,soll die Aufnahme des Erstkolostrums spätestens innerhalb vier bissechs Stunden nach der Geburt erfolgen. Spätestens zwölf Stundennach der Geburt nimmt die Aufnahme von Antikörpern aus demKolostrum im Darm des Kalbes deutlich ab und nach 24 Stunden werdenkaum mehr IgG im Darm resorbiert. Zeitgleich setzt mit derSekretion von Verdauungsenzymen die Verdauungstätigkeit beim Kalbein. Wertvolle Bestandteile des Kolostrums werden gespalten undkönnen nicht mehr in intakter Form ins Blut übertreten oder lokalihre spezifische Funktion erfüllen.
Um eine ausreichende Immunisierung des Kalbes zu erreichen,sollte das Kolostrum daher mindestens 50 mg/ml IgG enthalten. DieVerabreichung von rund zwei Kilogramm Kolostrum zur ersten Mahlzeitstellt eine physiologische Menge dar, die ungefähr demFassungsvermögen des Labmagens entspricht. Am besten sollte amersten Tag bis zu dreimal je eineinhalb bis zwei Kilogrammverabreicht werden.
Milchverlust
Sofern eine Kuh nur sehr wenig Kolostrum produziert (weniger als2 kg), kann ein zusätzlicher Verlust durch das «Milch laufenlassen»durchaus eine Rolle spielen. Wenn über einen längeren Zeitraum vordem Abkalben Milch austritt, kann in Erwägung gezogen werden, dieKuh bereits vor dem Kalben zu melken und das Kolostrumaufzubewahren. Die durch Laufenlassen verlorene Milch enthält nursehr wenig Fett, wodurch der Energieverlust für die Ernährung desKalbes gering ist. Der Fettgehalt steigt erst durch denMilcheinschuss deutlich an. Insgesamt kann man sagen, dass dasLaufenlassen der Milch vor dem Abkalben keinen bedeutenden Nachteilfür die Versorgung des Kalbes darstellt.
Bedeutender als die Versorgung des Kalbes scheinen in der Praxisdie Hygieneprobleme. Die ausgetretene Milch stellt eine möglicheQuelle für die Übertragung von Infektionserregern dar. Ferner kanndie Wirksamkeit von Trockenstellern und Zitzenversieglern beiKühen, die bereits vor dem Abkalben zum Milchlaufenlassen neigen,beeinträchtigt sein.
Milchqualität messen
Der «Goldstandard» für die Bestimmung der Kolostrumqualität(dessen IgG-Gehalt) ist zeitaufwändig und erfolgt nur inprofessionellen Laboren. Für die Anwendung auf dem Betrieb istdiese Methode nicht geeignet. Semiquantitative Schnelltestserlauben nur eine grobe Einstufung, können aber relativ schnellErgebnisse liefern. Die Einschätzung der Kolostrumfarbe ist nichtzu empfehlen, um Rückschlüsse auf den IgG-Gehalt zu ziehen. DieserFaktor kann jedoch ein Hinweis auf Inhaltsstoffe wie zum BeispielFett geben. Geräte wie das Kolostrometer oder das Refraktometerstellen indirekte Messverfahren dar, die den IgG-Gehalt schätzen.Der Nachteil beider Geräte ist, dass die Spezifität relativ geringist und nicht die Immunglobuline direkt gemessen werden, sondernnur grobe Rückschlüsse auf den Eiweissgehalt (Immunglobuline =Eiweisse) im Kolostrum abgeleitet werden. Dennoch liefern beideTests eine schnelle Einschätzung über Inhaltsstoffe wie Fett undEiweiss, die das Kalb ebenfalls als Nährstoffquelle in den erstenLebensstunden braucht.